"Mein ganzes Ich ist Liebe"

Religiöse Zeugnisse von Schweizer Frauen aus vier Jahrhunderten

Von Mechthilde VahsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mechthilde Vahsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zur kirchenhistorischen Frauengeschichte und zum Anteil von Frauen an religiösen Bewegungen sind in den letzten Jahren einige grundlegende Einzeluntersuchungen erschienen (vgl. die 2005 erschienene Studie von Ruth Albrecht über die Pietistin Johanna Eleonora Petersen), die sich vornehmlich auf die Verhältnisse in Deutschland beziehen. Doch wie sieht es in den Nachbarländern aus?

Bereits seit mehreren Jahren forscht die Autorin Doris Brodbeck intensiv zur Schweizer konfessionellen Frauengeschichte. Ihr Schwerpunkt liegt dabei einerseits auf der grundlegenden Erforschung von Biografien religiöser Frauen und Materialsichtung, andererseits auf der Interpretation und Publikation religiöser Texte von Frauen, die eigenständige theologische Denkmodelle präsentierten beziehungsweise selbstständige Gedanken thematisierten.

Die Theologin hat über eine der Pionierinnen der Schweizer Frauenbewegung, Helene von Mülinen (1850-1924), promoviert und nun ihr Forschungsinteresse auf mehrere Jahrhunderte ausgedehnt. Mit dem Buch "Dem Schweigen entronnen" macht sie eine Auswahl an Texten aus vier Jahrhunderten zugänglich, die verschiedene übergeordnete Themen umfassen. Hier interessieren die religiösen Frauen der Frühen Neuzeit, die folgenden Bereichen zugeordnet sind: 'Religiöse Hingabe und Armut' (Juliane von Krüdener, Maria Wiborada Zislin), 'Glaubensentwürfe zwischen Pietismus und Rationalismus' (Katharina Schmid, Ursula Meyer, Marie Huber, Hortensia von Salis) und 'Im Schatten der Reformation' (Jeanne de Jussie, Marie Dentière). Jede der Frauen wird kurz biografisch vorgestellt, dann folgen Literaturhinweise und ein prägnanter (zum Teil zweisprachiger) Textauszug.

Jeanne de Jussie und Marie Dentière kannten sich aus den theologischen Kämpfen der Reformationszeit, an denen sie sich beteiligten. Die Erstere, geboren 1503, trat 1521 in Genf in das Kloster St. Klara ein und war überzeugte Katholikin. Sie übernahm das Amt der Klosterschreiberin und hinterließ eine Chronik (bis 1535), die eindrucksvoll die Vorgänge in der Stadt schildert. 1535 flohen die Klarissen ins Exil nach Annecy. De Jussies Kritik richtete sich auch gegen Luther. In diesem Kontext verurteilte sie Marie Dentière als "falsche Äbtissin". Diese nämlich, geboren ca. 1490, gehörte zunächst einer katholischen Frauengemeinschaft an, trat dann zum Protestantismus über, heiratete und schrieb theologische Schriften. Beide Frauen waren sehr gebildet, vertraten jedoch konträre theologische Positionen. Nur in der Gleichrangigkeit der Geschlechter waren sie sich einig. Marie Dentière war eng mit Margarethe von Navarra befreundet.

Ebenfalls sehr gebildet und autodidaktische Theologin und Schriftstellerin war Hortensia von Salis, die 1659 geboren wurde. Ihre Schriften, wie zum Beispiel die "Glaubens-Rechenschafft" (1695), beruhten auf ihrem persönlichen Glaubens- und Bibelverständnis. Auch die tiefgläubige Laienärztin plädierte dafür, dass Frauen sich religiös frei äußern sollten, aber nur, wenn sie darüber ihre Aufgaben nicht vernachlässigten. Sie hinterließ eine umfangreiche Korrespondenz, aus der sich ihr tiefer Glaube und ihre umfangreichen medizinischen Kenntnisse erschließen.

Eine ihrer Nachfolgerinnen, Marie Huber aus Genf, wuchs in einer pietistischen Familie auf, blieb ledig, arbeitete karitativ und veröffentlichte ebenfalls religiöse Bücher. Sie kritisierte die christlichen Dogmen und vertrat eine natürliche Religion, ein Konzept, das in der Folge vor allem Jean Jacques Rousseau stark beeinflusste.

Der Nekrolog als Teil einer Klosterchronik begegnete im Kloster Libingen-Glattburg im Kanton St. Gallen. Die zweite Chronistin des Klosters, Sr. Maria Wiborada Zislin, verband mit dem Nachruf auf ihre Vorgängerin die Darstellung idealtypischer Vorstellungen und hob besonders die Frömmigkeitsideale eines Lebens hervor, das ausschließlich Gott geweiht war.

Zu den Erweckungsbewegungen des Pietismus zählen Juliane von Krüdener (geboren 1764) und Anna Schlatter-Bernet (geboren 1773). Obwohl die beiden im Briefwechsel standen, kam es nicht zu einer Freundschaft. Juliane von Krüdener, die in der Schweiz missionierte und aufgrund ihrer Aktivitäten schließlich ausgewiesen wurde, war der Jüngeren zu schwärmerisch. Anna Schlatter-Bernet war mit dem Theologen Johann C. Lavater bekannt und mit dessen Tochter Anne befreundet. Nach ihrer Erweckung schrieb sie Trostbriefe und Gedichte, hielt Briefkontakt mit vielen Theologen und diskutierte mit diesen religiöse Fragen. Auch die Ursulinerin Katharina Schmid, 1759 geboren, stand mit Lavater in Kontakt. Sie musste aufgrund der Räumung des Klosters in Luzern zu ihrer Familie zurückkehren, kümmerte sich um die Kinder ihrer verstorbenen Schwester und kehrte in den Laienstand zurück.

Diese Auswahl an Biografien zeigt eines deutlich: Frauen haben sich immer und überall und unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit zu theologischen Fragen zu Wort gemeldet, eigene Denkmodelle entwickelt, Dogmen hinterfragt, Lehrmeinungen kritisiert und sich eingemischt. Die von ihnen hinterlassenen Zeugnisse in Form von Briefen, Gedichten, Episteln, Romanen, religiösen Schriften, Gebetbüchern und so weiter lassen auf eine ausgezeichnete Bildung und umfangreiche Kenntnisse schließen. Die Autorinnen sind Protagonistinnen der Schweizer Kirchengeschichte und bieten mit ihren Werken anregende Visionen und Argumente, nicht zuletzt für aktuelle Fragen. Der Sammelband schafft mit der Auswahl eine wichtige Grundlage für weitere Forschungen.


Titelbild

Doris Brodbeck (Hg.): Dem Schweigen entronnen: religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. Bis 19. Jahrhunderts.
Religion & Kultur Verlag, marktzell 2006.
328 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3933891175

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