Geradezu liberal

Steffen Schmidts Dissertation über Hegels "System der Sittlichkeit"

Von Gustav MechlenburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gustav Mechlenburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Künstler Werner Büttner, der in den 1980er Jahren neben Martin Kippenberger und Albert Oehlen zu den "Jungen Wilden" der Malerei gehörte, stellte vor Kurzem in seiner Ausstellung "Hello Cruel World" in Bremerhaven ein Porträt Georg Wilhelm Friedrich Hegels aus mit der Unterschrift "Hegel Polizeistaat". Solcherart Provokation, die die Beschäftigung mit Hegels Denken auch im neuen Jahrtausend immer noch bei freigeistigen Menschen auszulösen vermag, ist für den Verfasser der Doktorarbeit "Hegels ,System der Sittlichkeit'" scheinbar kein Thema. Ein wenig zu verständnisvoll mutet Steffen Schmidts Projekt anfangs an, Hegels 1802/03 als Manuskript verfasster und erst nach dessen Tod unter dem Titel "System der Sittlichkeit" veröffentlichter Schrift eine bedeutende Stelle innerhalb des Hegel'schen Gesamtwerks zuzuweisen und für eine nachhegelsche praktische Philosophie fruchtbar zu machen.

"Hegel betreibt in seinem Manuskript unzweifelhaft Philosophie, nicht Politik", heißt denn auch der letzte Satz der 2004 in Berlin vorgelegten Doktorarbeit, und es klingt fast wie eine Entschuldigung dafür, dass man Hegel zumindest hinsichtlich dieses Textes nicht vom Kopf auf die Füße hat stellen dürfen.

Es gehört zum zweischneidigen Spiel des akademischen Betriebs, einerseits die eigene Arbeit als unverzichtbar anzukündigen, zugleich aber der wissenschaftlichen Redlichkeit zuliebe zugeben zu müssen, dass dem doch nicht ganz so ist. An Kritik gegenüber Hegels früher Abhandlung besteht daher glücklicherweise auch bei genauerem Hinsehen und fortgeschrittener Lektüre kein Mangel. Das Urteil fällt schlussendlich negativ aus. Hegel wird in dem hier behandelten Werk seinem eigenen Anspruch, nicht nur die Idee der absoluten Sittlichkeit zu rekonstruieren, sondern auch ihr Realsein aufzuzeigen, nicht gerecht. Es gelingt ihm nicht, die geforderte lebendige Einheit von empirischem und absolutem Bewusstsein aufzuzeigen. "Hegel hat es nicht vermocht, die absolute Sittlichkeit konsequent aus einem Bewegungsgesetz der natürlichen Sittlichkeit selbst, noch aus einem solchen der reinen Freiheit herzuleiten; er erreicht sein Ziel nur über die spekulative Setzung, d. h. als immanente logische Entwicklung."

Dabei ist Hegels Vorhaben zunächst zu begrüßen. Er kritisiert den Dualismus zwischen isoliertem Individuum und Gesellschaft, den Dualismus zwischen Geist und Körper sowie zwischen sittlichem Sollen und faktischer Realität. "Das entscheidende Problem ist, ob und wie es gelingen kann, das freie, autonome Individuum als Teil der Sittlichkeit zu begreifen und eine derartige Vermittlung auch zu gewähren. Es gilt dabei, das mit der Kantischen Philosophie gestiegene Anspruchsniveau des transzendentalen Subjekts zu bewahren: Autoritäre Strukturen oder Institutionen scheiden daher aus."

Hegel sucht nach den Bindungskräften, die das in seiner Persönlichkeit dem Anspruch nach unverletzliche Individuum vor Isolierung und Entfremdung bewahren und ein erfülltes Zusammenleben sowie die Verwirklichung von Freiheit sichern sollen. Doch insbesondere bei der Lektüre des letzten Teils des Manuskripts entsteht der "Eindruck, dass Hegels Ausführungen zur Organisation des Staates - auch für seine Zeit - etwas unzeitgemäß sind und im starken Kontrast zu den vorher beschriebenen ausdifferenzierten Sphären stehen". Sein Konstruktionszwang führt zu skurrilen Konstellationen, beispielsweise "dass sich ein Volk Anerkennung verschaffen müsse durch Krieg" und nur der erste Stand, der Adel, eigentlich das erfüllt, was wahre Sittlichkeit ausmacht.

Allerdings unterscheidet Schmidt immer wieder zwischen der stimmigen Konstruktion und der nicht gelungenen Realitätsanbindung und entdeckt im "spröden", "komplizierten", "kaum lesbaren" Entwurf einen großen Materialreichtum. "Was die Inhalte betrifft, kann man beinahe sagen, hier stecke bereits ,der ganze Hegel' drin."

Von vorneherein beeindruckt Schmidts klare Sprache, die nur an wenigen Stellen die metaphysische Diktion Hegels nachempfindet, und der vorbildliche Aufbau der Studie. Wobei der ausgiebige Anfangsteil mit der Entstehungs- und Forschungsgeschichte zunächst eher abschreckenden Charakter hat. Das hätte besser einen Exkurs gegeben. Dafür hätten andere Exkurse lieber eingängiger behandelt werden können.

Hegels Manuskript besteht aus drei Teilen. Und so arbeitet sich Schmidt im Folgenden nacheinander durch die Abschnitte "Die natürliche Sittlichkeit", "Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen" und "Die absolute Sittlichkeit".

Bereits auf der natürlichen Stufe herrschen Prinzipien, die das bloße Eigeninteresse übersteigen. Mit dem Übergang vom Werkzeug zur Maschine entsteht der Überfluss und der Besitz und damit die Notwendigkeit zum Tausch. "Der Markt vermittelt die eigentlichen Bedürfnisse der Individuen untereinander; diese Marktgesetze treten als eine anonyme Macht auf und entwickeln eine Sachgewalt. Die Individuen sind diesem Markt ausgeliefert." Hegel fragt nun nach einer vorhandenen Indifferenzstufe, in der die Ungleichheit aufgehoben ist und Eigentum als solches keine Bedeutung hat. "Bereits in den allerersten spontanen Äußerungen des Subjekts der Naturpotenz gibt es eine Subjekt-Objekt-Relation: Vernichtung (Essen, Trinken), Arbeiten, Lieben, Sprechen. Auf diesen ursprünglichen Akten baut Hegel den sittlichen Prozess auf." Das individuelle Selbst konstituiert sich also von vornherein über den Bezug zum Anderen. An Hegels Auffassung, dass der Mensch immer schon in sittliche Lebenszusammenhänge hineingeboren wird, ließen sich viele Bezüge zu heutigen Diskursen in Cultural Studies, feministischer Philosophie und nachhegelscher Anerkennungsthematik anknüpfen.

Im zweiten Kapitel behandelt Schmidt die Negativität der natürlichen Sittlichkeit. Sie stellt den Übergang von der natürlichen zur absoluten Sittlichkeit der politischen Gesellschaft dar. Spannend ist hierbei die Frage, inwiefern dieser Übergang notwendig ist, als geschichtlicher Durchlauf oder als konstruktionsbedingt. Durch die sozialen Konflikte erweitern sich die Identitätsansprüche der beteiligten Subjekte schrittweise. Offenbar sind die Negativerfahrungen also notwendig. Interessant sind vor allem die Passagen, in denen sich der Autor mit Axel Honneths Hegel-Interpretation beschäftigt. Honneths Sichtweise ist seiner Meinung nach zwar produktiv, allerdings stellt sie nach Schmidts Auffassung aber eine Überinterpretation dar. Laut Honneth stellt der Konflikt eine Art von Mechanismus der sozialen Vergemeinschaftung dar. Im Gegensatz zu Honneth vertraut Hegel, Schmidt zufolge, aber nicht auf die innerhalb der Konfliktaustragung entstehenden Sozialisierungseffekte.

Im letzten Teil seiner Studie geht Schmidt auf den dritten Teil von Hegels Manuskript ein. Dieser ist am fragmentarischsten geblieben und irritiert durch seine selbst für Hegel unzeitgemäße Darstellung. Schmidt ist sich in diesem Teil unsicher, ob er der Konstruktion folgen soll, die er stimmig findet, oder Hegel kritisieren soll, die Realität dabei vernachlässigt zu haben.

Immerhin gibt es auch im dritten Teil anschlussfähige Betrachtungen. Nach Hegel muss der Staat steuernd eingreifen, das Existenzminimum der Bürger sichern, den "übergroßen Reichtum", der zu "Verrohung der Arbeit" und "Bestialität der Verachtung alles hohen" führt, unterbinden. Alles in allem bleibt Schmidt trotz seiner Kritik Hegels Staatgedanken gewogen. "Hegels Staat ist nicht autoritär oder totalitär, er schützt eigentlich nur den Lebensraum und gestaltet ihn so, dass jeder einzelne an einem bestimmten Ort für sich selbst verantwortlich sein kann. In dieser Hinsicht wirkt Hegel geradezu liberal. Nicht also unterjocht der Staat den einzelnen, sondern individuelle und allgemeine Zwecke stimmen bei genauer Betrachtung überein." Wie diese "genauere Betrachtung" aber genau zu verstehen ist und wie sie ins Bewusstsein des Einzelnen dringen kann, bleibt jedoch die eigentlich spannende und nach wie vor ungeklärte Frage.


Titelbild

Steffen Schmidt: Hegels System der Sittlichkeit.
Akademie Verlag, Berlin 2006.
280 Seiten, 59,80 EUR.
ISBN-10: 3050042966
ISBN-13: 9783050042961

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