Jedes Gerücht wird Geschichte
Hugo Claus vertieft belgische Wunden
Von Lutz Hagestedt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie belgische Dorfkneipe mit dem seltsamen Namen "Zum Still-schweigen" ist eine Gerüchteküche. Und die Gerüchte kochen hoch, als René Catrijsse nach fast drei Jahren wie aus dem Nichts auftaucht und sich bei seinen Eltern versteckt hält. Er hat offenbar schlimme Zeiten bei belgischen Truppen in Afrika erlebt und von dort einen heimtückischen Virus mitgebracht, der sich rasch ausbreitet: Bald laufen im ganzen Dorf die Leute blau an, erbrechen sich, kotzen sich die Lunge aus dem Leib und sterben einen qualvollen Tod.
Der neue Roman von Hugo Claus ist eine Allegorie. Vieles erinnert an die großen homerischen Epen, zum Beispiel die Figur des René Catrijsse, der wie Odysseus nach Jahren heimkehrt und als Katalysator das Dorfleben radikal verändert. Ferner die primitive und in ihrer Mißgunst obsessive Gemeinschaft, die in den "Wir"-Kapiteln zur Sprache kommt und als griechischer Chor das Geschehen kommentiert. In einer Serie von Einzelszenen - der große Henry James ist in dieser Romankonstruktion spürbar - schreibt Hugo Claus über Moral und Scham, weltliche und ewige Verdammnis. Die Kolonialgeschichte, die Kollaboration zur Nazizeit, die Verbrechen der Gegenwart - lange Zeit gedeckelte und unterdrückte Feindseligkeiten sind nicht mehr zu bändigen, üble Nachrede und perfide Vorwürfe brechen sich Bahn. Vorsicht vor Gerüchten, warnt Lehrer Arsène, denn "jedes Gerücht wird Geschichte".
René Catrijsse und sein Freund Charlie, zwei Fremdenlegionäre auf verzweifelter Flucht, wollen sich mit Rohdiamanten vom geheimnisvollen "Hauptmann", dem Chef ihrer Kampfeinheit, loskaufen. Ihre Chancen, den Deal zu überleben, stehen schlecht. Sie kommen als Todesengel in das morbide belgische Dorfbiotop, wo die Menschen ans Sterben gewöhnt sind. Jetzt aber kommt es Schlag auf Schlag: Der Kopf von Lehrer Arsène landet in einem Eimer mit vierzehnprozentiger Salzsäure. Lucie, die kesse Tochter von Madeleine Vaneynde, erkrankt an einer seltsamen Form von Dysurie, schwitzt puren Urin und stirbt im Delirium. Eine rußgeschwärzte Pfanne zerschmettert dem vorwitzigen Reporter Hubert van Hoof den Schädel.
René und Charlie verbreiten Angst und Schrecken und haben selber schreckliche Bilder im Kopf, vom Legionärsleben im Kongo, vom Schädelspalten in Kenia, vom geschäftlichen Erfolg mit abgeschnittenen Brüsten und Geschlechtsteilen im Café Matadi. Sie sind sprachlos, abgestumpft und ans Töten gewöhnt. Genüßlich und rasch zerstört Hugo Claus die falsche Dorfidylle, keines seiner Geschöpfe kann mit Erbarmen rechnen. Man spürt sofort, daß hier ein freier, unabhängiger Kopf und großer Erzähler am Werk ist. Seine Destruktivität ist von einer Schärfe und Entschiedenheit, wie man sie lange nicht gelesen hat, und sie wird von beißender Komik im Übermaß konterkariert. Claus situiert seinen Roman Ende der sechziger Jahre in dem kleinen flandrischen Dorf Alegem, doch das Buch, kurz nach Aufkommen des nationalen Kindersex-Skandals erschienen, wird sofort als Kommentar zur Dutroux-Affaire gelesen. Vom Oktober 1996 bis zum April dieses Jahres erlebt De Geruchten in Belgien neun Nachauflagen und eine erbitterte Kontroverse. Es verbindet böse Destruktivität mit gnadenlosem Witz und Sarkasmus.
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