Hartnäckig französisch

Eine Anthologie über die Gegenwartsliteratur aus Québec

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Europa aus betrachtet erscheint Kanada gemeinhin als der kältere Teil Amerikas. Bekannten Klischees zufolge finden sich dort mehr Ahornbäume, mehr Flüsse und mehr Eiszapfen als im Land südlich der großen Seen. Kanadische Literatur? Natürlich wissen wir, dass auch Kanada einige bedeutende Schriftsteller hervorgebracht hat: Michael Ondaatje, Joan Barfoot, Margaret Atwood, um nur einige zu nennen. Doch wenn in der unbedarften Erwartung des Lesers in den Werken kanadischer Autoren Wald, Flüsse und Schnee vorzukommen haben, was mag den Leser anderes erwarten angesichts einer "québecer Literatur"? Québec ist jene kanadische Provinz des Landes, die im Osten vom Sankt Lawrence Strom gegen den Pazifik hin begrenzt wird und im Westen an die Grenze der Provinz Ontario stößt. Im Nordwesten nennt sie ein Fitzelchen der Hudson Bay ihr eigen, ein gutes Stück weiter in derselben Richtung liegt der Nordpol. Das Besondere an Québec ist aber, dass die Québécois trotz ihrer geographischen Nähe zu den Vereinigten Staaten von Amerika hartnäckig französisch sprechen, seit 1976 sogar offiziell.

Wie um die eingangs gestellte Frage nach dem Erwartungshorizont einer québecer Literatur zu beantworten, haben Lothar Baier und Pierre Filion jüngst die Anthologie "Anders schreibendes Amerika. Literatur aus Québec" vorgelegt. Die sorgfältige Auswahl von 46 Texten, nach Genres unterteilt (Prosa, Lyrik, Theater, Essay) gibt einen fundierten Einblick in verschiedene "Epochen" der ehedem franko-kanadisch, heute québecoise genannten Literatur der Gegenwart des französischsprachigen Kanada.

Der Band gibt Einblick in die emphatisch-exaltierte Romanprosa Hubert Aquins, in die bescheidene Lebenswelt des tyrannisch- skeptischen Buchhalters Mr. Butter (in einem Text von Trevor Ferguson) und in die historisierende Erzählkunst von Jacques Ferron, der von deutschen Söldnern und euphorischen Feldzügen im 18. Jahrhundert erzählt. Wer hier nicht kämpfen wollte, ließ sich vom Feind abwerben und mit Farmland beschenken - und wurde Siedler. Aus einer dramatischen Groteske von Jovette Marchessault wird eine verruchte Szene zitiert, in der Antonin Artaud in die Rolle von Anais Nins Mutter schlüpft. Viel zu kurz nur dürfen wir dem illusionslosen Röntgenblick von Ying Chen folgen und uns an den "sterbenskalten" Mordfantasien von Réjean Ducharme erfreuen. Dieser vielleicht exzentrischste kanadische Autor stellt sich in einemText die Frage, ob eine kanadische Nation überhaupt existiere, denn der "unermeßliche Kältepalast" sei entweder menschenleer oder (nord-)amerikanisiert.

Die erklärte Intention der Herausgeber ist es die parallele Entwicklung von Literatur und einer intranationalen Identität sichtbar zu machen. Im Vorwort stellen Baier und Filion den verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungsstadien Québecs exemplarisch einige herausragende Dichter an die Seite. Die Zeit-Reise beginnt mit der Nachkriegsliteratur, die stark geprägt war von jenen, die - von Frankreich kommend - der deutschen Okkupation entflohen waren und die europäische Heimat zurückgelassen hatten. Der literarische Ausdruck verändert sich in den 60-er Jahren bereits drastisch. Als radikale Stimme dieser Zeit - radikal in Form wie Thematik - ist hier erneut Réjean Ducharme zu nennen, der in seinem Roman "Das Unzweideutige" ("Le nez qui voque") abrechnet mit "Möchtegernfranzosen" und der kulturellen Übermacht des Amerikanischen: "Es gibt welche, die sich sehr anstrengen Kanadier zu werden, schwer zu Amerikanisierende; sie rauchen Gitanes, Lesen L'Express, steuern Citroens, klatschen Luis Mariano Beifall, trinken Château-Thierry und benutzen das Wort con. Ich hasse diese Möchtegernfranzosen, diese Pyro-Manischen, die sich schämen, an diesen Küsten geboren zu sein, die lieber an ihnen gelandet wären". Und, noch deutlicher: "In Kanada leben sogar die Eskimos amerikanisch".

Als Repräsentanten ihrer Zeit nennen die Herausgeber Jaques Poulin, Roch Carrier für die 70-er Jahre; Yolande Villemaire ("La vie an prose"), Francine Noel ("Maryse" und "Myriam") für die 80-er. Die 90-er Jahre läuten einen erneuten Wandel ein: Einwanderer aus den unterschiedlichsten Ecken der Welt, dem Baltikum, Brasilien, China, Haiti beleben die literarische Szene Québecs. Sie schreiben aus der Perpektive ihrer Vorstellungswelten im Französisch der neuen Heimat. Dass ihnen dies möglich ist, schreiben die Herausgeber dem modernen québecer Bewußtsein zu, "das sich der Welt zuwendet, den Schriftsteller des englischen Kanada ebenso aufnimmt wie den französischen oder den woher auch immer kommenden, und ihm einen Platz einräumt, an dem er sich Gehör verschaffen kann."

Zahlreiche Veröffentlichungen während der vergangenen Jahre haben der Literatur Québecs zunehmend zu Anerkennung und selbstbewusstem Heraustreten aus dem Schatten sogenannter Nischen-Literatur verholfen. Der Band "Anders schreibendes Amerika" beweist einmal mehr, dass die Literatur Québecs ihren festen Platz in der Weltliteratur hat. Baier und Filion haben eine gründlich recherchierte und mit fundierten Hintergrundinformationen ausgestattete Anthologie vorgelegt, die sowohl die zeitliche als auch kulturelle Einordnung vieler kanadischer Gegenwartsautoren erlaubt.

Titelbild

Lothar Baier / Pierre Filion (Hg.): Anders schreibendes Amerika. Eine Anthologie der Literatur aus Québec 1945 - 2000.
Verlag Das Wunderhorn, Frankfurt 2000.
376 Seiten, 25,10 EUR.
ISBN-10: 3884231642

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