Vom Umgang mit der Angst

Cass R. Sunstein diskutiert die Risiken und Nebenwirkungen des Vorsorgeprinzips

Von Mario Alexander WeberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Mario Alexander Weber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das neue Buch des US-amerikanischen Rechtsprofessors Cass R. Sunstein "Gesetze der Angst" geht auf seine Vorlesungen im März 2004, gehalten an der Universität Cambridge, zurück. Sein zentrales Thema ist das so genannte "Vorsorgeprinzip", welches in politischen Regulierungsfragen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Better safe than sorry, heißt es sprichwörtlich im Englischen. Klimawandel, internationaler Terrorismus, Sicherung von Trinkwasser und Lebensmitteln, Schutz vor Risiken am Arbeitsplatz, Gesundheitsvorsorge und weiteres mehr sind der aktuelle Hintergrund, vor dem Sunstein das Vorsorgeprinzip von allen Seiten kritisch beleuchtet.

Prinzip der Vorsorge? Gibt es daran etwas in Frage zu stellen? Am 12.07.2007 konnte man in der "ZEIT" lesen, dass hierzulande 15.000 Menschenleben jedes Jahr gerettet werden könnten, wenn alle, die Anspruch darauf haben, im Rahmen der Krebsfrüherkennung eine Darmspiegelung machen lassen würden. "Derzeit nehmen aber nur 10 Prozent die Möglichkeit der Darmspiegelung wahr." Zu wenig, und die Frage, ob diese Untersuchung sinnvoll oder nicht sei, stellt sich hier wie in vielen anderen vergleichbaren Fällen der Vorsorge nicht ernsthaft. Was diskutabel wäre, ist hingegen, wie und mit welchen Mitteln es gelingen könnte, eine größere Zahl an Menschen davon zu überzeugen, diese - zwar unangenehme, aber Schlimmerem vorbeugende - Untersuchung zu nutzen. Womit ein Themenbereich Sunsteins angesprochen wäre: Wie greift das Vorsorgeprinzip in der Praxis? Und weiter: Greift es umfassend betrachtet überhaupt? Existiert sogar Vorsorge, die in ihrer Anwendung mehr (neue) Risiken produziert als minimiert?

Sunstein belässt es nicht bei diesen Auseinandersetzungen, sondern unterbreitet unter dem Begriff "libertärer Paternalismus" selbst Vorschläge, wie Behörden ihre Strategien und Regulierungsmaßnahmen neu ausrichten, zumindest neu akzentuieren könnten. Wer jetzt bei diesem Begriff stutzt und einen Widerspruch in sich sieht ("Die Idee eines libertären Paternalismus scheint ein Oxymoron zu sein", schreibt Sunstein selbst), dem sei erläutert, dass Sunstein beides unter dem Kriterium der "Bewahrung der Entscheidungsfreiheit" zusammenbringen möchte. "Die generelle Maxime des [...] libertären Paternalismus fordert, daß die Menschen die von den Planern nahegelegten Optionen einfach vermeiden können." Der Knackpunkt liegt beim Wörtchen "einfach": Manch einer ist zu Recht schon von einem relativ einfachen, in Behördensprache abgefassten Anschreiben überfordert. Wenn, wie Sunstein andenkt, "erzwungenes Wählen" zwischen Annahme und Ablehnung eines behördlichen Vorschlags (die Wahl, sich nicht zu entscheiden, soll hiermit vermieden werden) eine Option sein soll, muss in der Praxis eben diese Ablehnung auch zügig und unkompliziert ausgeübt werden können. Wie dieses "erzwungene Wählen" in der Praxis funktionieren kann, zeigt Sunstein anhand von Beispielen aus der freien Wirtschaft. Konkret an Verträgen, die Angestellten von Unternehmerseite vorgelegt wurden, und in denen die Angestellten ihre Bereitschaft erklären sollten, beispielsweise einen Teil von zukünftigen Lohnerhöhungen für ihre Altersvorsorge zu sparen. Mit der Option, jederzeit aussteigen zu können. Wer an solchen Programmen nicht teilnehmen will, muss nicht daran teilnehmen. Das einzige, was er tun muss, ist den Vorschlag abzulehnen. Laut Sunstein führte dieses Vorgehen einer erzwungenen Wahl zu einer "signifikanten Steigerung der Sparquote." Wie so verstandener libertärer Paternalismus in anderen, komplizierteren Fällen praktisch umgesetzt werden kann, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Sunsteins Arbeit ist ein sehr abwägendes Buch. Sunstein weist darauf hin, dass beim Vorsorgeprinzip berücksichtigt werden müsste, dass in einigen Fällen gerade die vorbeugende Risikovermeidung neue, nicht intendierte und in ihren Auswirkungen nicht abzusehende Risiken schafft. Dies gelte sowohl für einzelne Individuen als auch für Staaten. Als Beispiele für letztere nennt Sunstein explizit den Präventivkrieg gegen den Irak im Jahr 2003 sowie umweltrechtliche Maßnahmen. Ein besonders absurdes Beispiel für "Substitutionsrisiken" ist der Fall Sambias. In einer Krisensituation bekam der afrikanische Staat 2002 eine größere Menge Getreide von der US-Regierung geschenkt. Die Regierung Sambias wies, und zwar ausdrücklich im Namen des Vorsorgeprinzips, die Lieferung zurück, weil sie "wahrscheinlich einige gentechnisch veränderte Körner enthielt." Laut einer UN-Studie wurden durch diese Ablehnung annähernd drei Millionen Menschen der Gefahr des Verhungerns ausgesetzt.

In den Danksagungen schreibt Sunstein über seinen Aufenthalt in England, der das Buchprojekt initiierte, er sei ein Vorteil gewesen, da er "beobachten konnte, wie stark sich die US-amerikanische Perspektive auf Risiken und Ängste von der europäischen unterscheidet - und dass es auch innerhalb Europas einige signifikante Differenzen gibt." Innereuropäische Uneinigkeiten außen vor gelassen, fällt bei der Lektüre auf, dass in der Tat Unterschiede zwischen den gerne in 'alt' und 'neu' eingeteilten Kontinenten bestehen. Überraschender Weise handelt es sich hierbei nicht um die stereotypische Gegenüberstellung vom freiheitsliebenden US-Amerikaner und dem mehr auf Absicherung bedachten Europäer. Die Grundannahme, dass Vorsicht besser als Nachsicht sei, teilen beide - laut einer von Sunstein zitierten Studie des deutschen Umweltbundesamtes gehörten die USA und Deutschland sogar dem selben "Lager" an, sprich: beide seien "Vorsorgestaaten" (im Gegensatz zu den "Schutzstaaten" Japan, Frankreich und Großbritannien).

Die wesentlichen Differenzen spiegeln sich eher in den Auffassungen, welche Gefahren überhaupt als Gefahren eingeordnet werden und vor allem, wie man sie regulieren kann. Sunsteins Buch bietet somit dem 'europäischen' oder 'deutschen' Leser als Mehrwert einen spannenden und teils lehrreichen Einblick in aktuelle Debatten, Denkmuster und Problemfelder in den USA. Zu nennen sind hier die Nicht-Ratifizierung des Kyoto-Protokolls beziehungsweise das generelle Verständnis vom Umgang mit Erderwärmung und Umweltschutz seitens der USA, die hierzulande irritieren. Oder George W. Bushs 'War against terrorism' und auch die im Zuge dessen nach Europa übergeschwappte 'Folter-Debatte' - es gibt mehrere Punkte vor allem in den Schlusskapiteln, die es erlauben, die amerikanische Sichtweisen nachzuvollziehen.

Zu erwähnen ist an dieser Stelle Sunsteins Analyse der (Medien-)Aufgeregtheit im Herbst 2002 um die 'Sniper' von Washington, die belegt, dass Risikowahrscheinlichkeit und individuelle Risikobewertung selten in vernünftiger Relation zueinander stehen. Starbucks-Cafés entfernten ihre Sitzgelegenheiten im Freien, eine Millionen Kinder durften während der Schulpausen das Gebäude nicht mehr verlassen, einige Bewohner trugen beim Tanken sogar schusssichere Westen. Das Risiko, Opfer der Heckenschützen zu werden, so Sunstein, sei für die Menschen der Metropolregion Washington statistisch vergleichbar gewesen mit dem 'Genuss' von 35 Scheiben Weißbrot (das Problem: in frischem Brot findet sich Formaldehyd) oder mit 100 Meilen Autofahrt - einige fuhren wegen der Heckenschützen zum Tanken nach Virginia. "Die Wahrscheinlichkeit auf der Fahrt in einem Autounfall verletzt oder getötet zu werden, war viel größer als die, von den Heckenschützen erschossen zu werden." Natürlich ist dieses Verhalten relativ leicht erklärbar: Eine reißerische Medienberichterstattung (Sunstein spricht hier vom "Risiko des Monats-Syndroms" analog zu Fällen wie Haiattacken oder spektakulärer Kindesentführungen) machte die Gefahr überhaupt erst "verfügbar" und emotionalisierte sie. Und die Emotionalität der Angst verdrängt hier eine rationale Auseinandersetzung. Es handelt sich um eine Kombination aus - im Fachjargon des Buches - "Verfügbarkeitsheuristik und Wahrscheinlichkeitsvernachlässigung". Doch eine solche Erklärung, so Sunstein weiter, die "ausschließlich auf das individuelle Denken abzielt, ignoriert etwas Wichtiges":

Verfügbarkeit und Beurteilung von Risiken variieren von Gruppe zu Gruppe, Ort zu Ort, Land zu Land. "Die Risiken der Atomenergie sind für die US-Amerikaner besser verfügbar als für die Franzosen, die diesen Risiken weniger besorgt gegenüberstehen. US-Amerikaner wiederum haben keine große Angst vor Risiken, die von gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln ausgehen, obwohl solche Risiken ihnen im Prinzip 'verfügbar' (gemacht) werden könnten." Nur am Rande sei hier erwähnt, dass Sunstein die europäischen umweltrechtlichen Bemühungen um die Kennzeichnung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln eher für kontraproduktiv hält. Interessanter Weise, um noch einmal auf die Geschehnisse in Washington zurückzukommen, stellt Sunstein aber nicht die naheliegende Frage, wie sich an anderem Ort eine Heckenschützen-Bedrohung hätte abspielen können. Sicher, es wäre erstens Spekulation und zweitens würde vermutlich in jeder Metropole Massenhysterie herrschen - doch diese Passage liest man schon aus der europäischen Perspektive, die dem liberalen Umgang mit Schusswaffen in den USA skeptisch gegenübersteht. Vor allem irritiert es, dass Sunstein in diesem Kontext gar die Schusswaffen als Beispiel für Ambiguität heranzieht: "In zahlreichen Fällen kommen Menschen zu Tode, weil Schußwaffen im Spiel sind..." - was ja unbestritten der Fall ist - "... und in vielen anderen Fällen ist es gesetzestreuen Bürgerinnen und Bürgern durch eben diese Schußwaffen möglich, sich vor Kriminellen zu schützen." Zu diesen "vielen anderen Fällen" findet sich zwar eine Fußnote mit zwei Literaturverweisen, doch hätte man das gerne noch von Sunstein selbst ein wenig vertieft dargestellt gefunden.

Sunstein plädiert für eine Versachlichung der Risikobewertung. Weil Wahrscheinlichkeiten häufig falsch eingeschätzt und selektiv wahrgenommen würden, benötigte es seitens der Regulierungsbehörden ein "Angstmanagement durch Bildung und Information." Behördliche Entscheidungen sollten sich auf nüchterne Kosten-Nutzen-Analysen stützen. Sunsteins Buch zeigt dem Leser die Komplexität von Abwägungen und Regulierungsmaßnahmen seitens der Behörden anhand vieler Beispiele. Er lenkt den Blick auf irrationales Verhalten, was die Risikowahrnehmung anbelangt. Höchst spannend wird es immer dann, wenn paternalistische Lenkungsstrategien diskutiert werden (oftmals als kleine Querverweise in den Fußnoten). Dass Sunstein beispielsweise sich für eine Erhöhung der Tabaksteuer aussprechen würde (der Nichtraucherschutz ist kein Thema bei ihm). Oder die von ihm zitierte Idee, dem Heiraten quasi ein Widerrufsrecht anzugliedern, indem eine kurze 'Abkühlungszeit' zwischen Heirat und behördlicher Genehmigung eingebaut wird. Wobei man sich hier schon fragen muss, wohin diese Idee führen soll...

Sehr ernst zu nehmen sind hingegen Sunsteins Überlegungen zum Dilemma Freiheit versus Sicherheit im Rahmen der Terrorgefahr in Demokratien. Die Risiken nehmen global eher zu als ab, auch darauf weist Sunstein eindrücklich hin. Jedes potentielle Risiko, so lautet sein vielleicht wichtigstes Fazit, kann weder der Staat, noch der einzelne Bürger minimieren oder gar eliminieren.


Titelbild

Cass R. Sunstein: Gesetze der Angst. Jenseits des Vorsorgeprinzips.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Robin Celikates und Eva Engels.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
344 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783518584798

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