Rebellischer Impetus?

Peter Kemper porträtiert John Lennon etwas arg basismäßig

Von Friedhelm RathjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Friedhelm Rathjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Über Popmusik schreiben? Wirklich einfach ist das nicht. Bevor man ans Werk geht, muss man sich nämlich entscheiden: Will man sich auf eine popgemäße Schreibe und Darstellung einlassen, oder zielt man auf nüchterne Sachlichkeit? Im ersten Falle kommt am Ende ein Fanbuch heraus, gegebenenfalls auch ein Anti-Fanbuch, also ein Bauchwerk, bei dem Impetus und Geschmack wichtiger sind als Genauigkeit im Detail - ein dem Pop angemessenes und deswegen gewiss legitimes Verfahren, das sich dann aber auch als solches offenbaren sollte. Im zweiten Falle erhält die Leserschaft am Ende ein 'seriöses' Buch, mithin etwas sehr viel Verlässlicheres als im ersten Fall - freilich wird diese Verlässlichkeit dann durch eine dem Pop eigentlich unangemessene Darstellungsform erkauft. Pop ist nun mal keine Kopfkunst. Beide Varianten haben also ihre gute Berechtigung, man muss sich halt nur entscheiden.

Nicht wirklich entscheiden konnte sich offenbar Peter Kemper, und so ist bei seinem Versuch, John Lennon umfassend zu porträtieren, leider ein laues Halbding herausgekommen. Geschrieben hat er seine Darstellung für die Suhrkamp-Reihe "BasisBiographie", die in betont seriösem Gewand daherkommt; durchgängige (unangenehm in den Fließtext hineindrängende) Quellenangaben lassen sogar so etwas wie einen wissenschaftlichen Gestus aufkommen. Kemper bemüht sich über weite Strecken, dieses Gebot der Seriosität zu befolgen, aber er hält es leider nicht durch. Gleich auf der ersten Textseite lesen wir im peinlich kitschtriefenden Eingangsabsatz: "Sein Herz trug Lennon stets - für alle hörbar - auf der Zunge". Kemper klebt etwas zu sehr an dieser Herzenszunge, und so fällt er nicht nur auf mehr Lennon'sche Selbststilisierungen und mehr Klischees der Lennon-Fangemeinde herein, als seinem Buch gut tut, sondern rutscht auch stilistisch (manchmal gar grammatisch) gar zu häufig aus. Als er - früh im Buch - immerhin die Mär widerlegt, Lennon sei während eines deutschen Bombenangriffs auf Liverpool geboren wurden, hängt er den albernen Satz an: "Lennons rebellischer Impetus mußte andere Wurzeln haben". Sehr viel weiter hinten im Buch lesen wir: "Lennon entschied sich, der erste prominente Hausmann zu werden". Solche hingewurschtelten Sätze sind leider nicht ganz untypisch für diesen Band.

Dem recht starr korsettierten Reihenkonzept gehorchend, verwendet Kemper knapp achtzig seiner 130 Textseiten auf einen Abriss von Lennons "Leben". Dass sich das komplexe Phänomen Lennon auf diesen achtzig Seiten nicht annähernd erschöpfend darstellen lässt und viele Dinge sehr verkürzt referiert werden, ist unvermeidlich. Dennoch hätte man sich eine Darstellung gewünscht, der es gelingt, der Persönlichkeit des Porträtierten ein bisschen näher auf den Pelz zu rücken. Am Ende aber ist Lennon trotz aller Aufzählungen seiner diversen Facetten als Mensch ungreifbar geblieben, Kemper kommt in keinem Augenblick nahe genug an ihn heran, um die Entwicklungen und Brüche seiner Biografie erklären zu können oder gar miterlebbar zu machen. Viel mehr als eine Aufreihung von Stationen einer nicht sonderlich geradlinigen Karriere bekommen wir nicht an die Hand.

Schön wäre es, wenn dann wenigstens das, was da aufgezählt wird, verlässlich wäre - aber das ist es auch nicht; Kemper scheint die Sekundärliteratur, die er in seiner Bibliografie aufführt, oft nur oberflächlich gelesen und sich im Zweifelsfall einfach an die meistverbreiteten, damit aber keineswegs korrekten Versionen gehalten zu haben. Was er in dürren Sätzen über die desolaten "Get-Back"-Sessions im Januar 1969 berichtet, ist nicht nur unzulässig verkürzt, sondern mit dem, was wirkliche Kenner der Geschehnisse heute wissen, auch schwer vereinbar; auch die von Kemper weiter verbreitete Mär, bei "Sgt. Pepper" sei Lennon als "spiritus rector" der Beatles federführend gewesen, ist so schwerlich haltbar, von der Bezeichnung von "A Day in the Life" als "Lennon-Song" einmal ganz zu schweigen. Wenn Kemper das 1966 aufgenommene Stück "Tomorrow Never Knows" als Antwort auf eine "damals gängige Hippie-Maxime" bezeichnet, darf man zumindest fragen, was Kemper denn wohl unter dem Begriff "Hippie" versteht, der in der heute üblichen Bedeutung erst 1967 aufkam; wenn er anlässlich des Albums "Imagine" von 1971 behauptet, dass hier "John als erstem Solo-Beatle auch der kommerzielle Durchbruch gelingen sollte", darf man vielleicht schüchtern an George Harrisons gigantische Verkaufserfolge vom Jahr zuvor erinnern; wenn er meint, auf "Imagine" zeugten die beiden Stücke "Jealous Guy" und "Gimme Some Truth" "von neu erwachter kompositorischer Kraft", so passt das recht wenig zu der Tatsache, dass beides schon Jahre alte Kompositionen waren ("Jealous Guy" wurde mit anderem Text von Lennon schon 1968 in Indien komponiert, was Kemper anderswo sogar selbst erwähnt, und "Gimme Some Truth" spielten die Beatles bereits bei ihren Sessions Anfang Januar 1969).

Am unangenehmsten sind aber vielleicht noch nicht einmal solche faktischen Schnitzer, es ist vielmehr die Neigung des Autors, Lennons Songtexte bedenken- und bedingungslos als autobiografische Selbstaussagen zu interpretieren und entsprechend halsbrecherische Schlüsse zu ziehen. Wohl wahr, ein solcher Umgang mit Beatles- und speziell Lennon-Texten hat eine lange Tradition; um so dringlicher wäre es gewesen, in diesem seriös sein wollenden Buch solchen Unfug zu unterlassen. Kemper aber unterlässt gar nichts, er liest selbst noch aus den Titeln und Texten der Rock-'n'-Roll-Standards, die Lennon in den Mittsiebzigern coverte, autobiografische Aussagen des Sängers heraus. Nun ist es aber nicht so, dass Kemper sich einer besonders avancierten Textexegese befleißigen würde; notfalls schließt er einfach die Songtitel mit dem, was er sich als biografische Aussage wünscht, kurz, und dann ist "Revolution" plötzlich ein revolutionsverherrlichendes Stück - als solches mag es (auch der kreischenden Gitarren wegen) von vielen Fans verstanden worden sein, aber der Text geht doch in die entgegengesetzte Richtung. Vollends aberwitzig wird es, wenn Kemper behauptet, Lennon habe seine Mutter "in zahllosen Liedern" "romantisiert", und als Beispiele neben "Julia" auch die Abrechnungsnummer "Mother", den Angstsong "I'm Losing You" und das trauernde "My Mummy's Dead" aufzählt. Später dann wird "I'm Losing You" aber plötzlich auf Yoko Ono und nicht mehr auf Lennons Mutter bezogen.

Angemessener als solche missratenen Textdeutungen sind in der Regel Kempers Versuche, die musikalischen Strukturen und Qualitäten einzelner Stücke zu erhellen. Leider greift er allerdings auch hier bisweilen grotesk daneben, etwa wenn er behauptet, das Stück "John Sinclair" sei "ein bluesiger Steel-Guitar-Stomp" - dass eine Steel Guitar in die Schublade 'Country & Western' gehört und deswegen wenig "Bluesiges" zu bieten hat, sollte man, wenn man über Popmusik schreibt, schon wissen. Und tatsächlich spielt Lennon auf besagtem Stück eine Slide Guitar (was selbst stocktauben Lennon-Fans nicht verborgen blieb, da es auf der entsprechenden Plattenhülle eigens vermerkt ist - Lennon war vermutlich oberstolz auf das, was er hier spielte, schließlich konnten seine gitarristischen Fähigkeiten eigentlich mit denen seiner Kollegen Harrison und McCartney keineswegs mithalten).

Am instruktivsten an dem 20-seitigen Unterkapitel "Die Songs", in dem der Autor ausgewählte Stücke vorstellt, ist vielleicht gar nicht das, was er schreibt, sondern die Auswahl als solche. Kemper schreibt hier über jene vierzehn Songs, die ihm für Lennons "Selbstverständnis zentral scheinen". Geht man die Veröffentlichungsdaten durch, so fallen zwei große Lücken auf; eine zwischen 1972 und 1980 (was nicht unbedingt verwundert, lebte Lennon doch in diesen Jahren in weitgehender Distanz zum Popmusikbusiness), die andere zwischen "I Am The Walrus" (1967) und "God" (1970) - und das muss für Leser, die von Lennon nicht mehr wissen, als sie bei Kemper lesen können, doch überraschend sein, waren die Jahre ab 1967 doch die großen Jahre der 'reifen' Beatles. Aber es ist schon so: Die (vor allem musikalisch) innovativsten Projekte der Beatles gingen halt doch mehrheitlich von Paulchen McCartney aus, und in den späteren Jahren der Beatles war es aus verschiedenen Gründen nicht mehr immer sonderlich viel, was Lennon der Band zu geben hatte. Bei den heute fast vollständig dokumentierten, von Kemper aber nicht nennenswert thematisierten "Get-Back"-Sessions vom Januar 1969, die mindestens der Anfang vom Ende der Band waren, glänzte Lennon durch fast ostentative Arbeitsverweigerung und dadurch, dass er George Harrisons Ausstieg provozierte (wofür in der Literatur meist immer noch fälschlich McCartney als Auslöser gehandelt wird; Kemper sagt dazu überhaupt nichts).

Wozu also taugt Kempers "John Lennon"? Als Faktenquelle ist das Büchlein zu unzuverlässig, als Porträt einer facettenreichen Persönlichkeit zu uninspiriert, als Analyse der Songs viel zu oberflächlich. Lennon-Fans werden hier nichts erfahren, was sie nicht schon wüssten. Wer noch überhaupt nichts von Lennon weiß, bekommt hier immerhin einen halbwegs stimmig komprimierten Durchgang durch dessen Karriere geboten. Aber was will jemand, der von Lennon nichts weiß, damit anfangen?


Titelbild

Peter Kemper: John Lennon.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
160 Seiten, 7,90 EUR.
ISBN-13: 9783518182239

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