Arme kleine Deutsche

Zur Neuausgabe von Herbert Marcuses "Feindanalysen. Über die Deutschen"

Von Jonas EngelmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Engelmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits 1998 erschienen anlässlich von Herbert Marcuses 100. Geburtstag seine "Feindanalysen", Arbeiten im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes über die Mentalität der Deutschen im Nationalsozialismus. Diesen aktiven Beitrag im Kampf gegen das faschistische Deutschland beim damals noch OSS genannten US-Geheimdienst leistete Marcuse von 1942 bis 1951. Die nun in einer erweiterten Neuausgabe im Rahmen der von Peter-Erwin Jansen editierten "Schriften aus dem Nachlaß" vorliegenden Arbeiten, ergänzt um einige Fotos und Brief-Faksimiles, entstanden zwischen 1939 und 1947.

Bei ihrer Erstveröffentlichung 1998 wurden Marcuses "Feindanalysen" stark im Kontext der damaligen Diskussionen um Daniel Jonah Goldhagens kurz zuvor auf deutsch erschienenen Buches "Hitlers willige Vollstrecker" rezipiert. Beiden gemeinsam ist die Konzentration auf die ganz gewöhnlichen Deutschen, auf deren Motivationen, das nationalsozialistische System zu stützen; beide - und das ist wohl die Ursache vieler ablehnender Reaktionen - beschreiben Kontinuitäten, psychologische und gesellschaftliche Strukturen, die weder erst mit dem Nationalsozialismus beginnen noch mit dessen Zusammenbruch enden. Beide schließlich blicken von Außen auf Deutschland, Goldhagen als amerikanischer Jude und Marcuse als Exilant, was sicherlich auch zur Ablehnung beigetragen haben dürfte, die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus erledigt man in Deutschland lieber selber.

Und jetzt, zehn Jahre und einige Kriege mit deutscher Beteiligung später? Die Diskussion um Goldhagens Thesen wird mittlerweile - wenn überhaupt - nur noch an den Universitäten geführt und es ist eher unwahrscheinlich, dass die Marcuse-Neuausgabe ein ähnliches Medienecho hervorrufen wird wie vor zehn Jahren ("Rezensionen erschienen in allen großen Printmedien, Fernsehberichte im Hessischen Rundfunk und 3 Sat", schreibt Herausgeber Peter-Erwin Jansen sichtlich erstaunt im Vorwort zur Neuausgabe).

Dabei haben Marcuses Untersuchungen der Strukturen der Nazigesellschaft nach wie vor aktuelle Anknüpfungspunkte: Der ansteigende Antisemitismus und die im Nachhall der Fußballweltmeisterschaft festgestellte Zunahme der Fremdenfeindlichkeit. Konkret geht es in Marcuses Geheimdienstberichten um nicht weniger als den Versuch, Möglichkeiten zur Vernichtung des Nationalsozialismus und Chancen der Aufklärungsarbeit an der deutschen Bevölkerung aufzuzeigen. Dabei ergeben Marcuses Deutschlandanalysen "weder eine abgeschlossene Theorie des Nationalsozialismus noch tragen sie der Bedeutung von Auschwitz Rechnung", wie Detlev Claussen in seinem Einleitungstext anmerkt. Dafür sind sie auch zu sehr Auftragsarbeiten und in kurzer Zeit entstanden. Aber obwohl Marcuse nur am Rande auf die Vernichtung der europäischen Juden eingeht, zeigt er doch in seiner Untersuchung der "neuen deutschen Mentalität" diejenigen Strukturen auf, die sie möglich gemacht haben.

Weil der Nationalsozialismus, so Marcuse, die Denk- und Verhaltensmuster der Deutschen in einer Weise verändert habe, dass sich "die traditionellen Methoden der Gegenpropaganda und Umerziehung als unzulänglich erweisen", diese deutsche Mentalität aber gleichzeitig einer gesellschaftlichen Organisationsform entspricht, die mit "dem Naziregime nicht identisch ist, auch wenn dieses seine aggressivste Ausdrucksform ist", so weist er damit auch auf das Nachleben des Nationalsozialismus im Nachkriegs-Deutschland.

Dabei nimmt Marcuse die historische Entwicklung der Kritischen Theorie von einer marxistisch orientierten Gesellschaftstheorie zu einer Kritik der Rationalität, welche Freiheit durch Naturbeherrschung zu sichern vorgibt, mit auf: Die Erfahrungen des Nationalsozialismus sind Auslöser der Abkehr von der Hoffnung auf vernünftige Verhältnisse. Horkheimer und Adorno machten in ihrer parallel zu Marcuses Geheimdienstarbeit entstehenden "Dialektik der Aufklärung" die selbstzerstörerische Dynamik, in die sich das aufklärerische Denken verwickelt, zum Thema: die Selbstvernichtung der Vernunft.

An diesen Anknüpfungspunkten lässt sich die starke Nähe - obwohl sie an entgegengesetzten Küsten Amerikas lebten - der Mitglieder des emigrierten Instituts für Sozialforschung erkennen. Auch Horkheimer wird in "Zur Kritik der instrumentellen Vernunft" von 1947 diesen Gedanken weiterführen. Vernünftig ist das, was sich als nützlich erwiesen hat, Vernunft wird als ein Instrument verstanden, als eine abstrakte, formale Funktion des Denkmechanismus. Sie beschränkt sich darauf, die Angemessenheit von Zwecken und Mitteln zu prüfen, mit denen ein Ziel erreicht werden soll.

"Diese Sachlichkeit bildet das eigentliche Zentrum der nationalsozialistischen Mentalität und das psychologische Ferment des Nazisystems", so Marcuse in "Die neue deutsche Mentalität", dem zentralen Text des Buches. Marcuse arbeitet als prägendes Element der Nazimentalität die gleichzeitige Verschränkung von technologischer Rationalität, Pragmatismus und mythischen Irrationalismen heraus. Der Pragmatismus und die Mythologie - Heidentum, Rassismus und Sozialdarwinismus - sind also Ausprägungen des gleichen Phänomens, der neuen Mentalität. Freiheit, Gleichheit und Menschenrechte werden der deutschen Bevölkerung dort, wo diese Ideen sich nicht in materieller Sicherheit niederschlagen, zur reinen Ideologie.

Dieser Rationalismus hat, wie Marcuse herausarbeitet, auch Auswirkungen auf die Sprache, auch diese ist im Nationalsozialismus streng technisch ausgerichtet: "Ihre Begriffe zielen auf einen pragmatischen Zweck ab und legen alle Dinge, Verhältnisse und Institutionen auf die operative Funktion fest, die sie im nationalsozialistischen System besitzen." Daher verlieren Begriffe ihre tradierte Bedeutung, die sie zum Gemeingut der Zivilisation gemacht hat, stattdessen erhalten sie einen neuen einzig durch ihren politischen Kontext definierten Inhalt. Dieses Funktionalisieren der Sprache im Dienste des Nationalsozialismus, das Marcuse hier nur streift, ist für viele Überlebende von Auschwitz zu einem wichtigen Punkt der Auseinandersetzung geworden. Die Sprache musste "hindurchgehen durch die tausend Finsternisse todbringender Rede", wie Celan später schrieb, sie ging "hindurch und durfte wieder zutage treten, 'angereichert' von all dem."

Aus dieser Beschädigung der Sprache leitet Marcuse auch die wichtige Frage ab, wie man sich Auschwitz annähern kann, eine Frage also, die bis heute den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung um Kunst nach Auschwitz darstellt. Für Marcuse ist klar: "Die ganze Wahrheit über diese Welt kann nur in einer Sprache mitgeteilt werden, die nicht mit den auf Versöhnung zielenden Hoffnungen und Versprechen der Kultur angereichert ist, und noch mehr verbietet sich eine Sprache, die jene Hoffnungen und Versprechungen in der satanischen Form enthält, in welcher der Nationalsozialismus sie verwirklicht hat."

Im einzigen neuen Text dieser dann doch nur minimal erweiterten Ausgabe beschäftigt sich Marcuse mit dem Verhältnis von "Staat und Individuum im Nationalsozialismus". Er hinterfragt die These, dass die Hauptkennzeichen des Nationalsozialismus der totalitäre Charakter des Staates und der autoritäre Charakter der Gesellschaft seien. Denn der Nationalsozialismus habe die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft weitgehend aufgehoben, indem er "den tatsächlich an der Macht befindlichen gesellschaftlichen Gruppen politische Funktionen übertragen hat." Durch diese Selbstherrschaft der dominanten gesellschaftlichen Gruppen werden, so Marcuse, die Massen manipuliert, "indem [der Nationalsozialismus] die brutalsten und eigensüchtigsten Instinkte des Individuums freisetzt." Protest und Rebellion werden gebrochen, vielmehr hat sich durch "die Erhebung der deutschen 'Herrenrasse' über die verfolgten Fremden und Außenseiter die nationalsozialistische Jugend mit jenen identifiziert, die Leiden und Opfer anderen aufzwingen."

Ein ständiges Hin- und Hergerissensein zwischen der Hoffnung auf die Zerschlagung des Faschismus und der Resignation aufgrund der Schwierigkeiten, die nationalsozialistischen Denkstrukturen in einer deutschen Nachkriegsbevölkerung zu besiegen, prägt die "Feindanalysen". Viele Ansätze späterer Arbeiten sind hier schon angelegt, sie reflektieren die Schwierigkeiten einer nachfaschistischen Gesellschaft, in die Marcuse nicht zurückgekehrt ist.

"Arme kleine Deutsche: Die ganze Welt ist gegen sie - arme kleine Deutsche: Kriegen einen Maulkorb - arme kleine Deutsche: Sind keine Nazis aber: man wird ja noch mal was sagen dürfen", singt Knarf Rellöm in seinem Song "Arme kleine Deutsche". Dieser Kommentar zur neuen Normalität eines deutschen Patriotismus wird wohl ebenso wenig diejenigen erreichen, gegen die er gerichtet ist, wie Marcuses "Feindanalysen", die auch als ein solcher Kommentar funktionieren würden. Das ist schade; trotzdem beruhigend, dass beides gerade jetzt erscheint.


Titelbild

Herbert Marcuse: Feindanalysen - Über die Deutschen. Schriften aus dem Nachlaß.
zu Klampen Verlag, Springe 2007.
170 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866740037

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