Das Mädchen mit dem Faltenrock

Zur deutschen Erstveröffentlichung von Francoise Dorners "Die letzte Liebe des Monsieur Armand"

Von Alice HuthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alice Huth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In ihrem jüngst in deutscher Übersetzung erschienenen Roman "La douceur assassine" schreibt Francoise Dorner über das Gefühl, das Thomas Manns Gustav von Aschenbach um sein Leben und Vladimir Nabokovs Humbert Humbert um den Verstand brachte - die späte Liebe zur Jugend. Freilich unterscheidet sich ihr Text in vielerlei Hinsicht von den literarischen Vorlagen - der irreführende Titel des Originals (zu deutsch: "Tödliche Zartheit") wurde mit glücklicher Hand von Christel Gersch in "Die letzte Liebe des Monsieur Armand" übertragen.

Ein älterer Herr mit Stock verliert in der Metro die Haltung, eine junge Demoiselle im unzeitgemäßen Faltenrock reicht ihm, ganz selbstverständlich, die Hand. Mit M. Armand tastet sich der Leser von nun an auf der Suche nach seiner Retterin durchs Quartier und findet, sozusagen en passant, Bruchstücke seiner traurigen Vorgeschichte. Der langsame Tod seiner Frau Madeleine, die unglückliche Hochzeit des Sohnes und der sukzessive Verlust sozialer Kontakte erschweren dem pensionierten Lehrer jeden Schritt - auf die junge Frau wie auf das Leben zu. Überall - auf den Pariser Straßen und in seinem gepflegten Heim - hinter den Bücherwänden, der schweren Wanduhr und dem Schweigen der Haushälterin lauert die Einsamkeit. Gekonnt gestaltet Dorner Alltagshandlungen wie den täglichen Verzehr einer knapp bemessenen Portion Weichkäse oder die Telefonate mit längst entfremdeten Kindern als Szenen bürgerlicher Tristesse. Nur "der Freitod als Antwort auf das Nichts" erscheint ihrem zynischen Ex-Studienrat noch gangbar. Oder aber die Freundschaft mit Pauline, dem Engelskind, das als "Zipfelchen blauer Himmel" "Hoffnung wider alle Hoffnung" verspricht.

Dabei ist Pauline keineswegs jenes "wehrlose junge Mädchen, das nichts Böses kennt", zu der Armand sie in zahmen Altherrenfantasien stilisiert. Als einzige Tochter früh verstorbener, liebloser Eltern sucht sie in wechselnden Affären ihr Glück - den Zutritt in eine intakte Familie. Pauline arbeitet als "Verkäuferin von Artikeln zur Verschönerung des Heims." In ihrem Schaufenster sind "lauter hübsche Dinge ausgestellt, überflüssig aber anheimelnd: Teewärmer, Kaffeewärmer, Kissen, Kerzen, Gobelinläufer und Stickereien." Durch die verstaubte Vitrine meint ihr betagter Verehrer neben ihren Umrissen die verbrauchten Hände seiner Großmutter auszumachen, die ihn als Jungen mit Handarbeiten erfreute. Es scheint beinahe, als hätten sich seine halbvergessenen Erinnerungsbilder in Paulines Rocksaum verfangen - und als könne er, der permanent vom Freitod fabuliert, mit seinem Leben nicht abschließen, solange er diese Schätze nicht wiederfindet.

Indem Dorner ihre junge Heldin mit altjüngferlichen Attributen (Teewärmer, Stickereien und Faltenrock) ausstattet, setzt sie ein Zeichen: Ihre Pauline ist keine zweite Lolita und ihr Weg führt nicht über das Bett eines Greises ins gesellschaftliche Aus. Anstatt einem Todgeweihten Leben spenden zu müssen, darf sie ihm den Himmel günstig stimmen. Dorner zeigt, dass die verlorene Lebensordnung - im Text ins Bild des blühenden Kastanienbaums gefasst, der Vater und Sohn auf dem Schulhof Schatten spendete, rekonstruiert und erzählt werden muss, um sie mit ins Grab zu nehmen, Versöhnung zu stiften und den Nachfahren ein Erinnern zu ermöglichen.

Doch nicht nur die junge Generation, auch die Verstorbenen gilt es zu versöhnen: Erst in Paulines Beisein gelingt es dem Alten, sich seinen Gespenstern zu stellen. Mit ihr besucht er die unheimlichen Skulpturen seiner Frau, die sein verwaistes Ferienhaus bevölkern und die Leere der letzten Ehejahre bezeugen. Armand, der seit langem Zuflucht zum "Althergebrachten" - zum dozierenden oder unaufrichtigen Sprechen nahm, lernt endlich, äußere und innere Erlebnisse wieder furchtlos beim Namen zu nennen. Jetzt reflektiert er auch die zweischneidigen Gefühle, die ihn an seine junge Gefährtin binden und begegnet sich selbst als einem Anderen.

Dorners Geschichte handelt von Liebe und von der Anstrengung, sich mitzuteilen: In einer der schönsten Szenen bricht Madame Dune, die Putzfrau im Gelehrtenhaus, endlich ihr Schweigen: "Ich will nicht mehr über ihre Fliesen kriechen, ich steh auf, Mr. Leclair. Sie kannten nicht einmal meinen Vornamen. Ich heisse Liz. Wegen Liz Taylor."

Dank Dorner möchte man wie Dune, Armand und Pauline mit verkrusteten Sprach- und Lebensgewohnheiten und festgeschriebenen Hierarchien aufräumen, um sie zusammen mit den Gegensatzpaaren alt / jung, Lehrer / Schüler oder Vater / Sohn zu entsorgen. Mit Humor und Scharfsinn weist sie unser gewohntes, binäres Denksystem als ein "ziemlich rohes und reduktionistisches Mittel, um Bedeutung herzustellen" (Stuart Hall), in seine Schranken. Der Schauspielerin und Autorin gelingt es, Banalität mal unbarmherzig, mal rührend zu inszenieren und die Tragikomik des Alltags spielerisch einzufangen.

Schade nur, dass eine, die in der Zeichnung ihrer Hauptcharaktere Kontraste in Schattierungen auflöst und hinter Differenzen Nähe, sogar Familiarität aufspürt, ihre Statisten vernachlässigt: Es erscheint unnötig, dass ein reicher Fabrikantensohn nur Mädchen mag, "die mit Geld um sich werfen, die zu seinen Autos passen", und eine böse Schwiegertochter den Sohn verdirbt. Auch sprachlich lässt der Text an einigen Stellen zu wünschen übrig: Wenn Dorner ihre entzückende Protagonistin "wie gelähmt, doch innerlich zitternd wie Espenlaub" vor der Tür einer Fabrikantenfamilie warten lässt, wird Schlichtheit Phrase und die arme Pauline fällt aus der Rolle.

Francoise Dorner bietet spannende Unterhaltung und sie erinnert daran, dass man, auch wenn man am Stock geht, noch lernen kann, sich von Sprach- und Gesellschaftskonventionen zu befreien. Und wie gut es tut, sich aufzurichten, sei es auch Auge in Auge mit dem Tod. Mit leichter Hand hebt die Autorin schließlich in einem überraschenden Finale noch den letzten Gegensatz auf: Dann nämlich gehen Trauer und Glück, wie in den großen Momenten des Lebens, Hand in Hand.


Titelbild

Francoise Dorner: Die letzte Liebe des Monsieur Armand. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Christel Gersch.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
138 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783257861624

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