Dickhäuter und Hinterbeiner

Barbara Gowdy versetzt uns die seltsam menschliche Welt der Elefanten

Von Stefanie Regine BrunsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Regine Bruns

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Wenn sie lange genug leben vergessen sie alles. Aber die meisten von ihnen leben nicht so lange. Neun von zehn werden in der Blüte ihres Lebens abgeschlachtet, Jahrzehnte bevor ihr Gedächtnis durchlässig wird. Ich spreche also von der Mehrheit, wenn ich sage, es stimmt, was Sie gehört haben: Sie vergessen nie." Mit diesen Worten führt uns Barbara Gowdy in die faszinierende Welt der Elefanten. Das sprichwörtliche Erinnerungsvermögen der sanften Dickhäuter ist einer der Ausgangspunkte ihres Romans, der ganz aus der Perspektive afrikanischer Elefanten geschrieben ist.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine junge Elefantenkuh namens Matsch, die mit ihrer Adoptivfamilie in den Sümpfen und Savannen Ostafrikas umherstreift. Nun wird das Gebiet von einer verheerenden Dürre heimgesucht, die die Familie dazu zwingt, weite Wanderungen zu unternehmen. Auf ihrer Suche nach Wasser werden sie immer wieder von den elfenbeinjagenden "Hinterbeinern" bedroht, bei blutigen Gemetzeln werden ganze Elefantenfamilien ausgelöscht. Auch Matschs Familie wird auseinandergerissen. Die wenigen Überlebenden werden bei ihrem täglichen Überlebenskampf von einer vagen Hoffnung angetrieben, vom Glauben an den legendären, magischen Weißen Knochen, der ihnen den Weg zum Sicheren Ort weisen soll. Diese Hoffnung lässt sie Hunger, Erschöpfung, Schmerz, Krankheit und das grausame Verenden ihrer Artgenossen ertragen und überwinden.

"Der weiße Knochen" ist keine simplpe Tiergeschichte. In der Welt der Elefanten spiegelt sich die der Menschen. Beim Lesen vergisst man sogar stellenweise, daß hier Tiere und keine Menschen denken, fühlen und handeln, so nah scheinen sich beiden Welten zu sein. Die Elefanten haben ihre eigenen religiösen Gesänge und spirituellen Vorstellungen: Sie glauben an "Sie", die Mutter aller Elefanten, die bei vielerlei Gelegenheiten gepriesen und angerufen wird. Die Namen der erwachsenen Elefantenkühe setzen sich aus dem Vornamen "Sie" und einer mehr oder weniger passenden Charaktereigenschaft zusammen: Sie-Schmollt, Sie-Schreit, Sie-Schützt, Sie-Schwafelt usw. Nur in der sonderbaren Familie der "Verlorenen", die ebenso weise wie eitel sind, beginnen alle Namen mit "Ich".

Die Stammbäume der Elefantenfamilien sind auf den ersten Seiten des Buchs zu finden, ebenso ein kleines Wörterbuch der Elefantensprache, denn die Elefanten haben ganz eigene Bezeichnungen für die Dinge ihrer Umwelt. Diese wirken oft recht komisch, etwa wenn ein Hubschrauber "Dröhnfliege", ein Maschendrahtzaun "Strolchnetz" oder eine Schlange "Zuckstock" genannt wird.

Barbara Gowdy verleiht den Elefanten typisch menschliche Eigenschaften. Es gibt unter ihnen Freundschaft, Neid, Liebe, Eitelkeit, Besorgnis und Nachdenklichkeit. Doch darüber hinaus verfügen diese Tiere über ganz eigene, phantastische Eigenschaften: In jeder Familie gibt es eine Gedankenrednerin, die die Gedanken der anderen Elefanten lesen und mit anderen Tieren kommunizieren kann. Dann gibt es die Visionärin, die die Zukunft in Ausschnitten voraussehen kann. Weiterhin gibt es noch Medizinkühe, Feinriecherinnen und Zeichendeuterinnen. Jede Familie wird von einer Matriarchin angeführt und beschützt. Diese feste Gesellschaftsstruktur und Aufgabenverteilung gibt den Elefanten Sicherheit und Vertrauen.

Elefanten sind ganz besonders sensible, sentimentale, fast schon weinerlich zu nennende Tiere, denen jede Art von Verlust oder Sehnsucht das Herz bricht. Die Erinnerung an ihre von den Elfenbeinjägern grausam verstümmelten Artgenossen wird für sie zu einem Trauma: Denn die toten Elefanten ohne Stoßzähne werden im Himmel nicht in die Familie der Sie aufgenommen, sondern stürzen ins Ewige Uferlose Wasser.

Barbara Gowdys Roman überzeugt durch gute Recherche und die phantasievolle Ausgestaltung des Zusammenlebens afrikanischer Elefanten. Man wird unweigerlich in die sonderbare Welt der Dickhäuter versetzt und erfährt zugleich mehr über seine eigene Welt. Die Geschichte ist traurig, ungewöhnlich und spannend zugleich. Ein faszinierendes Buch - nicht nur für Elefantenfreunde!

Titelbild

Barbara Gowdy: Der weisse Knochen.
Verlag Antje Kunstmann, München 1999.
304 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3888972191

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