Keine kugelrunde Gemütlichkeit

Jan Neruda war nicht nur in der Prager Kleinseite zuhause - erstmals in deutscher Übersetzung liegt ein Band mit abenteuerlichen Reisebildern vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pablo Neruda, der chilenische Poet und Nobelpreisträger für Literatur, war bei der Suche nach einem Pseudonym durch Zufall auf den Namen des tschechischen Schriftstellers und Journalisten Jan Neruda (1834-1891) gestoßen und hatte somit zur weltweiten Verbreitung des Familiennamens beigetragen. Eine Anekdote, die den Prager Jan Neruda sicherlich erheitert hätte.

Im Kanon der tschechischen Literatur bilden vor allem Jan Nerudas "Kleinseitner Geschichten" einen festen Bestandteil. Der in München lehrende Slavist Miloš Sedmidubský hat in einer gründlichen Studie den Charakter dieser Geschichten als "Antiidylle" nachgewiesen. In gewisser Weise könnte man die vorliegenden Reisebilder ebenfalls damit umschreiben. Eine genaue Beobachtung gepaart mit einer ungewöhnlichen Ausdrucksfähigkeit sieht gerade in der Fremde auch die Schönheitsfehler im Schatten bedeutender Sehenswürdigkeiten. Bei dieser Vorgehensweise spielt es keine Rolle, ob es sich dabei um Auffälligkeiten im Heiligen Land oder um die Stadt München handelt: "Grobheit wird im bayrischen Dialekt ,Gemütlichkeit' genannt. Hier ist jeder gemütlich, derjenige, der einem auf der Straße das Fell über die Ohren zieht, derjenige, bei dem man etwas kauft, und auch der, der einen bedient".

In einem Wiener Theater stellt Jan Neruda fest, dass er Verständnisprobleme mit dem Wiener Deutsch hatte: "In einem russischen Theater beispielsweise hätte ich auch fast so lange gebraucht, so nah ist uns dieses Deutsch!"

Neruda schreibt aus der Distanz eines aufmerksamen Beobachters, aber nicht eines distanzierten Besuchers. Die Nähe zu dem so genannten einfachen Volk scheut er nicht - im Gegenteil, sie nötigt ihm tiefergehende Einblicke in Gewohnheiten und Eigenarten der aufgesuchten Landstriche ab. Im Grenzgebiet des Erzgebirges zwischen der sächsischen und der böhmischen Schweiz behagen ihm "die Einheimischen mit dieser kugelrunden Gutmütigkeit im Gesicht und ihrem weichen Dialekt, einem Dialekt, der immer noch wie das Deutsch eines Slawen klingt, der es immer noch nicht beherrscht".

Das "slavische Element" fasziniert Jan Neruda und er findet gerade im Ausland, ob in Paris oder Triest, immer wieder Spuren davon. Manche Bemerkungen illustrieren das erwachende nationale Selbstbewusstsein eines tschechischen Intellektuellen, welches sich im Falle Jan Nerudas zugleich in sanfter Ironie und selbstkritischer Brechung präsentiert.

Die Gabe tschechischer Poesie, genaue Beobachtung in spielerischer Phantasie zu überhöhen und damit zu neuen, unverhofften Bildern zu gelangen, findet sich auch bereits bei Jan Neruda. Im tschechischen Poetismus der 1920er-Jahre erreichte dieses dichterische Verfahren einen künstlerischen Höhepunkt. In Anlehnung an eine kindliche Form der Wahrnehmung blickt Jan Neruda zum Beispiel auf eine Eisenbahnstation und beginnt, seine sachlichen Eindrücke mit Leben zu erfüllen: "Eine halbwüchsige Lokomotive und vier kleine Waggons, die reinsten Kätzchen. Ich fürchte mich zu fragen, wo die anderen wären; vielleicht sind sie eingegangen, als sie noch blind waren".

Die vorliegende Textsammlung wurde wieder in bewährter Weise von der Wiener Bohèmistin Christa Rothmeier ausgewählt und übersetzt. Ihr Nachwort "Jan Neruda, Prager Lokalpatriot und Kosmopolit" beschreibt treffend die Spannung zwischen Heimat und Welt, der Jan Neruda sich ganz bewusst ausgesetzt hatte. Seine Reisebilder beschreiben viele Stationen Europas und des Vorderen Orients: Paris, Triest, Rumänien, Athen, Konstantinopel, die Westböhmischen Bäder, Hamburg und Berlin. Es war dieser bewusst wahrgenommene Blick über den nationalen Tellerrand, der ihn in jeglicher Hinsicht vor perspektivischer Engstirnigkeit bewahrte. Jan Nerudas umfangreiches Schaffen als Dichter, Dramatiker, Erzähler aber auch Journalist beinhaltet somit in weiten Teilen eine Frische, die auch in unseren Tagen ansprechend wirkt.

Die 33-bändige Reihe der Tschechischen Bibliothek ist mit diesem Bändchen komplett und belegt ein weiteres Mal die vorzügliche Aufmachung dieser Bücher. Vor allem dem Mitherausgeber Eckhart Thiele ist es zu verdanken, dass jeder dieser Bände mit größter Sorgfalt ediert, herausgegeben und kommentiert ist. Es ist dies ein Verdienst, dessen Nutzen für das deutsch-tschechische Miteinander gar nicht genügend gewürdigt werden kann.


Titelbild

Jan Neruda: Die Hunde von Konstantinopel. Reisebilder.
Übersetzt aus dem Tschechischen von Christa Rothmeier.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
384 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421052544

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