Die Geheimnisse der Familie Canary

Barbara Gowdys Roman steckt voller Überraschungen

Von Sigrid BornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Born

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Irgendwie vertraut und doch absolut einzigartig sind die Charaktere der Familie Canary, um deren kompliziertes Leben es in "Mister Sandman" geht. Doris entdeckt, dass sie lesbisch ist, als ihre älteste Tochter ein Mädchen bekommt. Schon vorher hat Gordon festgestellt, dass er Männer liebt. Beide, Doris und Gordon, verbergen ihre Homosexualität so gut sie können und leben sie trotzdem aus. Offiziell haben sie drei Töchter, Sonja und Marcy; Joan ist Sonjas uneheliches Kind, was ebenfalls ein gut gehütetes Geheimnis ist.

Joan ist der Mittelpunkt der Familie. An ihr zeigt sich, zu wieviel Liebe und Verständnis die Familie fähig ist, welche Wärme und Zärtlichkeit sie aufbringen kann. Denn bei ihrer Geburt war Joan auf den Kopf gefallen - hier zeigt sich gleich zu Anfang des Buches das Talent Barbara Gowdys, Szenen mit viel schwarzem Humors pointiert zu beschreiben - und von da an hieß es, sie habe einen Hirnschaden. Joan ist ein mysteriöses Genie: sie bleibt kleinwüchsig, sie spricht nicht, sondern kommuniziert über perfekt nachgemachte Laute, etwa "das Summen des Verkehrs zwei Straßen weiter, das Pfeifen der Eisenbahn, einen Zusammenstoß zwischen einem Auto und einem Zug an einem unbeschrankten Bahnübergang". Joan lebt häufig in einem Schrank, sie spielt meisterhaft Klavier, ohne es je gelernt zu haben.

Scheinbar normal nach außen hin sind die Personen nicht gerade perfekt, vor allem körperlich, und doch besitzt jede von ihnen faszinierende Eigenschaften: Sonja ist fett und verfressen und nicht sonderlich intelligent, "aber mit den Händen kann sie zaubern." Sie strickt meisterhaft, "und in rasendem Tempo entstehen Schals in einfachen Zickzackmustern und grellen Farbkombinationen, die an ausländische Flaggen erinnern." Doris ist schrill, ständig in Bewegung und eine geniale Erfinderin von Lügengeschichten. Ausnahmslos jeder Charakter ist auf eine bestimmte Weise bizarr, komisch und überaus treffend dargestellt wie etwa Oma Gayler in ihrer Wohnung: "Jedesmal, wenn Doris sie besuchte, lief sie als erstes hektisch durch die Wohnung und zertrat die Tausendfüßler und erntete die Pilze. Sie kratzte den Mehltau und den Schimmel ab, nur nicht von den Lehnen des kastanienbraunen Ohrensessels, denn in ihm saß Joan immer."

Das Lied "Mister Sandman" begleitet das Leben der Familie Canary als ein wiederkehrendes Motiv. Eine eigenwillige Komposition dieses "Ohrwurms" von Joan, aus Melodien und zusammengeschnittenen Sätzen der Familienmitglieder erstellt, ist es schließlich, die den Geheimnissen ein Ende macht. Musikalisch und irgendwie leicht wirkt die Geschichte auf den Leser, obwohl die Probleme aller Beteiligten - außer vielleicht der von Joan, die unendlich zufrieden in sich zu ruhen scheint - schwer genug wiegen. Schwarzer Humor, Sex, komische und brilliant groteske Szenen sorgen immer wieder für Überraschungen. Ein Buch, das auch dank der hervorragenden Übersetzung alles andere als langweilig ist und auf weitere Werke von Barbara Gowdy neugierig macht.

Titelbild

Barbara Gowdy: Mister Sandmann.
Verlag Antje Kunstmann, München 1995.
284 Seiten,
ISBN-10: 3888971543

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