Nüchterne Analyse des Rausches

Stephan Reschs Annäherungen an die deutschsprachige Drogenliteratur

Von Yvonne PörzgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Pörzgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hat er oder hat er nicht? Diese Frage stellt sich wohl jeder, der einen Text über Drogen liest und sich überlegt, ob der Autor wohl selbst Heroin, Cannabis oder Kokain konsumiert hat und nun aus eigener Erfahrung spricht. Sollte es denn überhaupt möglich sein, über Drogen zu schreiben, ohne sie selbst ausprobiert zu haben? Ja, sagt Stephan Resch. Und nicht nur das Schreiben über Drogen, sondern auch das Schreiben über das Schreiben über Drogen kann seiner Ansicht nach ohne eigenen Erfahrungshintergrund vor sich gehen. Der Autor der Studie "Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945" findet dafür einen treffenden Vergleich: Wenn er sich mit Duell-Literatur befasste, würde man es ihm schließlich auch nicht als Nachteil anlasten, wenn er selbst noch keinen solchen Zweikampf ausgefochten hätte. Sein Interesse an veränderten Bewusstseinszuständen ist wissenschaftlicher Natur: Ihn interessiert, wie Rauscherfahrungen in Sprache, in Literatur "übersetzt" werden.

Reschs Vorhaben erscheint paradox: Gleich im Vorwort erklärt der Germanist, er wolle durch "nüchterne Überlegung" die deutsche Drogenliteratur nach 1945 so auslegen, dass sie "auch dem Uninitiierten" verständlich werde. Trotz des Widerspruchs ist damit das Ziel seiner Arbeit gut umrissen: Der Versuch, die irrationalen Erfahrungen eines Drogenrausches in Worte zu fassen, führt zwangsläufig zu paradoxen Erscheinungen. Reschs Vorgehen wird der oftmals unlogischen, assoziativen Literatur, der er sich widmet, also gerecht.

Resch beschränkt sich nicht auf die deutsche Literatur, sondern bezieht auch Texte amerikanischer, englischer und französischer Autoren in seine Untersuchungen mit ein. Dieses Vorgehen ermöglicht es ihm, allgemeingültige Charakteristika internationaler Drogenliteratur herauszuarbeiten. Keiner der "üblichen Verdächtigen" in puncto Drogenliteratur fehlt, von William Burroughs über Jean Cocteau bis Allen Ginsberg sind alle vertreten. An bekannten deutschsprachigen Autoren, deren Werke vor 1945 erschienen und die sich in ihren Texten mit der Wirkung unterschiedlicher Drogen auseinander setzten, sind etwa Novalis, Ernst Jünger, Klaus Mann, E.T.A. Hoffmann und Gottfried Benn zu nennen. Benn lieferte denn auch mit seinem provokanten Essay "Provoziertes Leben", in dem er Alkaloide als Nahrung für "potente Gehirne" forderte, die Vorlage für den Titel von Stephan Reschs Untersuchung "Provoziertes Schreiben". Besonderen Stellenwert räumt Resch den Urvätern der Drogenliteratur, Thomas de Quincey und Charles Baudelaire ein, deren Texte "Confessions of an English Opium Eater" beziehungsweise "Les Paradis Artificiels" er immer wieder zur Vergleichszwecken heranzieht. Gerade sie dienen als Messlatte für die Texte der 20 deutschsprachigen Autoren, die er vertieft untersucht. Angesichts der Reihe illustrer Namen könnte man meinen, Resch wolle einen Kanon der Drogenliteratur aufstellen. Dem ist aber nicht so. Bewusst wählt er zur näheren Untersuchung neben bekannten Autoren wie Hans Fallada und Günter Wallraff auch eher unbekannte Schriftsteller wie Peter Rosei oder Bettina Gundermann aus. Auch dies entspricht dem Ziel seiner Studie, das Genre der Drogenliteratur allgemein zu erfassen.

Da stellt sich natürlich die Frage, was Resch unter Drogen und speziell unter Drogenliteratur versteht. Statt einer genauen Definition, was eine Droge sei, bedient sich Resch des landläufigen Verständnisses und bezeichnet nur illegale, das Bewusstsein verändernde Substanzen als Drogen. Alkohol und Nikotin fallen für ihn unter die Genussmittel und werden deswegen nicht berücksichtigt. Das mag pragmatisch sein und ist angesichts der Masse an Alkoholliteratur und der umfangreichen Forschungsarbeit dazu vertretbar. Problematisch wird dieses Vorgehen aber, wenn Resch bei seinen Überlegungen zum Verhältnis von Rausch, Sucht und Literatur behauptet, in Deutschland gäbe es keine Rauschkultur.

Die Versuche, die Phänomene Rausch und Sucht zu definieren, bleiben vage. Resch scheut davor zurück, klare Definitionen zu liefern, was auch seiner Thematik angemessen ist: Wie sollte man einen so vielfach und widersprüchlich assoziierten Begriff wie "Rausch" in knappen Sätzen umfassend charakterisieren? Statt an Benn hätte sich Resch bei der Wahl des Titels auch an Ernst Jünger und dessen Drogenabhandlung "Annäherungen" orientieren können: In der Einleitung und im ersten, "Rausch - Sucht - Literatur" überschriebenen Kapitel nähert sich Resch in immer enger werdenden Kreisen den urmenschlichen Phänomenen Rausch und Sucht an, um schließlich exakt sagen zu können, was er nun eigentlich untersuchen will, wenn er von Drogenliteratur spricht.

Unter Drogenliteratur versteht Resch ausschließlich Literatur über Drogen. Das Schreiben direkt im Rausch selbst sei hingegen ein zu seltenes Phänomen, um es in so einer Studie zu untersuchen. Dabei erstaunt es aber, dass Resch, obwohl er sich, wie eingangs geschildert, der Problematik der biografischen Komponente bewusst ist, bei jedem Autor die Frage stellt, ob dieser Drogen zu Inspirationszwecken nutze. Die Stellen, an denen er eine innere Verwandtschaft zwischen Drogenkonsum und literarischer Tätigkeit herstellen möchte, sind weit weniger überzeugend als seine Einzelinterpretationen von Texten.

In noch genauerer Unterteilung will Stephan Resch herausfinden, ob unterschiedliche Klassen von Drogen sich auf unterschiedliche Weise in der Literatur widerspiegeln. Resch hat seine Untersuchung in die Hauptkapitel "Die Opiate", "Cannabis", "Die Halluzinogene" und "Die Stimulanzien" gegliedert. In jedem Kapitel schickt er eine Beschreibung der Drogenwirkung voraus, bevor er analysiert, wie Autoren diese literarisch darstellen. In den Einzelinterpretationen untersucht der Germanist, ob die Autoren ihr Thema auf "anachronistische, zeitgemäße oder avantgardistische" Art und Weise behandeln. Heinz Liepmans (1905-1966) "Der Ausweg. Die Bekenntnisse des Martin M." (1961) etwa hält Resch der Form nach für wenig innovativ: Über 100 Jahre nach de Quinceys "Confessions" biete der Bekenntnischarakter von Liepmans Roman wenig Neues. Stattdessen zeichne er sich durch die Detaildichte zur Morphiumsucht aus: "Die Entziehung vom Morphium ist hier zwar genau beschrieben, aber nicht versprachlicht. Während Burroughs und später Fauser den Entzug als eine alptraumhafte Körperreise inszenieren, die notwendigerweise abstoßend ist, oder Cocteau die Essenz der zerfahrenen Denkprozesse in kurzen Aphorismen konzentriert, versucht Liepmann eine lineare Erzählform beizubehalten, die aber die Leiden Martins nur mittelbar ausdrückt."

Jörg Fauser (1944-1987) konsumierte zeitweise so viel Opium, dass selbst William Burroughs staunte: "Junger Mann, Sie müssen ja völlig verrückt gewesen sein." Ein solches Urteil macht neugierig darauf, wie Fauser seinen Erfahrungsschatz in Literatur umwandelt. Stephan Resch findet an Fausers Texten die "vielfältigen Versuche, die Mechanismen der Sucht sprachlich darzustellen", besonders bemerkenswert: "In Fausers Werk finden sich [...] experimentelle Textmontagen, Stream of Consciousness-Passagen, Cut-Up-Prosa [...]. Fausers drogenspezifisches Werk ist ein Mosaik aus Momentaufnahmen der Sucht, wobei sich die einzelnen Teile gegenseitig erhellen [...]." Resch zeigt auf, dass die Beschreibung eines Drogenrausches oder des Abrutschens in die Sucht allein nicht ausreichen, um einen gelungenen drogenliterarischen Text zu verfassen. Immer wieder betont er, wie wichtig die sprachliche Transformation des Erlebens sei, dass die Drogenthematik nicht nur die inhaltliche, sondern auch die sprachlich-formale Ebene durchdringen könne und solle.

Resch hat sowohl die deutschsprachige als auch und vor allem die englischsprachige Forschungsliteratur zum Thema ausgewertet, was sich im umfangreichen Literaturverzeichnis widerspiegelt. Sein großer Korpus an Primär- wie an Sekundärliteratur beweist, dass er sich mit der Materie hervorragend auskennt. Einige formale Aspekte trüben jedoch den insgesamt positiven Eindruck der Arbeit. Ohne Index ist es sehr umständlich, die Bemerkungen zu Autoren, die nicht en detail besprochen werden, nachzuschlagen. Im Inhaltsverzeichnis sind zwar die Überschriften ersten, zweiten und dritten Grades verzeichnet; der Text ist aber durch zahlreiche weitere Zwischentitel gegliedert, die nur direkt im Text auftauchen. Schließlich sind die Anmerkungen statt am Seitenende am Ende des Buches angeführt, was beim Lesen zu umständlicher Blätterei führt.

Davon abgesehen macht es Spaß, sich von Resch zum Nachdenken über eingefahrene Bewertungsmuster anregen zu lassen. Der Germanist plädiert dafür, das deutsche Verständnis von Drogen auf den Prüfstand zu stellen und zweifelt die Rechtmäßigkeit an, mit der sämtliche Drogen außer Alkohol und Tabakwaren in der deutschen Gesellschaft tabuisiert werden. In seinen Ausführungen zu Rausch und Sucht kommt er zu Schlussfolgerungen, die durchaus anfechtbar sind und nicht den Anspruch auf absolute Gültigkeit erheben können. Das ist aber vielleicht auch nicht unbedingt die Intention des Autors. Sein Verdienst ist es, dass er zum Nachdenken über die genannten Phänomene anregt und dazu unterschiedliche Wege aufzeigt, von soziologischen Methoden über philosophische Begriffskomplexe bis zu medizinischen Forschungen. Als Reiseführer ins Land der Drogenerfahrungen ist seiner Ansicht nach niemand besser geeignet als ein Schriftsteller, der das Unsagbare sagbar macht. Dass es sich lohnt, sich mit solchen Reiseberichten auseinander zu setzen, führt Stephan Reschs Arbeit "Provoziertes Schreiben" überzeugend vor Augen.


Titelbild

Stephan Resch: Provoziertes Schreiben. Drogen in der deutschsprachigen Literatur seit 1945.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
399 Seiten, 56,50 EUR.
ISBN-13: 9783631560815

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