Wirklich wahr

Matthias Ueckers Studie über Dokumentationen der "Wirklichkeit" in der Literatur

Von Oliver GeislerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Geisler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt in der Literatur- und Kulturgeschichte sicherlich zahlreiche "Recherchen in der Realität", die dann zu Erzähltexten umgearbeitet werden, deren Ausgangspunkt also explizit die Wirklichkeit ist. Man denke nur an die jahrhundertealte Tradition der Reiseberichte, die innerhalb eines Textes wissenschaftliche Abhandlung, literarisch ambitionierter Abenteuerroman, ethnografische Studie und Selbstaussprache eines europäischen Subjekts sein können. Texte können aber auch zeitgenössisches Wissen - etwa der Natur- und Sozialwissenschaften - oder aktuelle Problemlagen - etwa aufsehenerregende Rechtsfälle - thematisieren. Die Literatur um 1800 liefert dafür ebenso unzählige Beispiele, wie die Poetiken im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Immer scheint "Wirklichkeit" durch die Erzähltexte hindurch, und nicht selten sind Dokumente und Akten die Grundlage des Schreibens. Darüber sinniert Matthias Uecker in seinem Buch "Wirklichkeit und Literatur" nicht. Oder nur am Rande, denn die Traditionen dieser Wirklichkeitsrecherchen sind seinen Ausführungen inhärent. Der Untertitel seiner Publikation kreist das Einzugsgebiet ein: "Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik." Das müsste aber noch nicht eine Differenz zu den skizzierten Traditionen bedeuten.

Die Differenz ergibt sich aus der Einschätzung dessen, was als Kontur der Neuen Sachlichkeit benannt werden kann. Ueckers Konturierung lässt sich wie folgt umreißen: Er beschreibt sie als Erschütterungen, die aus einer Skepsis gegenüber dem Literarischen insgesamt erwachsen. Sachlichkeit bedeutet eine Provokation der Literatur, mit der vor allem eine Kritik an Fiktionalität und Literarizität einhergeht. Die Bemühungen um Schreibweisen der Sachlichkeit zielen vielfach auf einen Funktionswandel der Literatur: Sie soll gesellschaftsbezogen wirken. Sie wird als Möglichkeit begriffen, Wirklichkeit zu analysieren und auf sie verändernd einzuwirken. Literatur erhält einen neuen Auftrag: Es handelt sich um die Verschiebung vom Ästhetischen zum Soziologischen und Politischen. Der ästhetischen Wahrheit wird die Wirklichkeit und Überzeugungskraft der Fakten entgegen gehalten. Und die tradierten Unterscheidungskriterien des Literatursystems werden durch den neusachlichen Diskurs - wenn auch nur kurzzeitig - suspendiert.

Die Arbeit versammelt Überlegungen zu Döblins ästhetischem Programm, zu Beglaubigungsfiguren wie dem "Rasenden Reporter". Sie untersucht Verarbeitungen des Ersten Weltkrieges, aber auch Formen wie die "Arbeiterkorrespondenz" und den engagierten Roman. An dieser - hier nur gewaltsam verkürzten - Reihe wird deutlich, dass es um verschiedene Autorschaftskonzepte und Gattungsüberlegungen geht, die zwischen einem scheinbar hinter dem Material verschwunden Autor bis zum Reporter als Marke und Markenzeichen oszillieren und Publikationsformen wie den avancierten Montageroman mit dem Beitrag in der Arbeiterzeitung verbinden. Auch die Beglaubigungsformen- und formeln sind weit gespannt: Sie reichen von der Beweiskraft persönlichen Erlebens bis zur Herausstellung von Distanz, die erst Analyse und Zeigen der Wirklichkeit ermöglicht. Zudem lassen sich verschiedene Gewichtungen zwischen "Wirklichkeit" und Literatur finden, von der Überbetonung einer Seite bis zu einem nicht selten mühevollen Ausbalancieren; jenen Versuchen, Wirklichkeit und Literatur nicht gegeneinander auszuspielen, sondern miteinander zu versöhnen.

Es wird einmal mehr deutlich, dass zur Unübersichtlichkeit der Weimarer Jahre gehört, dass zahlreiche poetologische Strategien scheinbar unberührt von politisch-weltanschaulichen Ordnungen verlaufen und die Aufteilung in klar definierbare Gruppen ästhetisch durchkreuzen. Die Forschung über die literarischen Reflexe auf den Ersten Weltkrieg beispielsweise ist vielfach an historisch-politischen Lagern orientiert. Der Kurzschluss von Weltanschauung und Ästhetik verstellt dabei aber den Blick für die geradezu apolitischen Diskurse der Weimarer Republik. So kommt es etwa zu der Konstellation, in der neusachlich-engagierte Erik Reger Ernst Jünger zur poetologischen Orientierungsfigur ausruft. Ueckers Studie ist frei von dieser Vorstrukturierung seines Gegenstandes und kann so die Neue Sachlichkeit in ihrer ganzen Heterogenität erfassen.

Es lässt sich wohl auch kaum eine homogene Dokumentar-Ästhetik behaupten. Eine solche wäre nur zum Preis literaturwissenschaftlicher Verrenkungen zu haben. So geht es Matthias Uecker nicht darum, das Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur universell zu bestimmen, sondern er fragt in seinem Buch danach, wie zu einem bestimmten Zeitpunkt dieses Verhältnis diskutiert wurde. Er untersucht gesellschaftliche Kräftefelder, am Diskurs maßgeblich beteiligte Akteure, referiert theoretische Positionen und praktische Publikationen. So wird ein überaus widersprüchliches und komplexes Gefüge als ein weitestgehend überschaubares, räumlich wie zeitlich begrenztes Feld aufbereitet. Sachlichkeit taugt, das wird bei der Lektüre des vorliegenden Buches deutlich, nur als Leitvokabel, die die verschiedensten, nicht selten fundamental widersprüchlichen Formen der Aneignung der Wirklichkeit im Text zu bündeln vermag. Verbindendes Element ist der Versuch der neusachlichen Autoren, Unmittelbarkeit und Authentizität - Wirklichkeit - in den eigenen Text zu integrieren. Es handelt sich dabei um einen Wirklichkeitspostulaten entgegenstehenden konstruktiven Akt, der aber durch den Wirklichkeitseffekt des Textes verschleiert und nur selten als poetologisches Problem textimmanent verhandelt wird. Dies ist den theoretisch-programmatischen Schriften vorbehalten, die Uecker ausführlich diskutiert. Es wird deutlich, dass die literarischen Realisierungen allzu häufig hinter den Erwartungen der Rezipienten, aber auch den theoretisch-konzeptionellen Vorgaben der Autoren selbst zurück bleiben. Fundamentale Widersprüche zeigen sich zum Teil innerhalb des Werks eines Autors.

Es macht die Qualität von Ueckers Arbeit aus, die Heterogenität des Sachlichkeits-Diskurses aufgenommen und die disparaten Positionen zueinander in Beziehung gesetzt zu haben. So werden die einzelnen Kräftefelder, die Wirklichkeitskonzeptionen, die politischen Gruppen und thematischen Sektionen in ihrer Eigenständigkeit plastisch nachvollziehbar. Es lässt sich studieren, was die diskursiven Voraussetzungen für die Positionen einzelner Akteure und Gruppen sind, aber auch, wie diese selbst auf den Diskurs einwirken. Stets gelingt es dem Autor, ihren Ort innerhalb des neusachlichen Gesamtmilieus sichtbar zu machen. Das Buch "Wirklichkeit und Literatur" erschließt Überschneidungen, Konkurrenzen und Aufmerksamkeitsverschiebungen; dies führt dazu, dass die widersprüchliche Signatur der sachlichen Episode erschlossen werden kann.

Die Arbeit liefert schlüssige Einzellektüren. Die Stärke der Arbeit liegt aber vor allem in der Vernetzung einzelner Diskursbeiträge und Versatzstücke, ohne dieses Netz in Definitionen bündeln zu wollen, die die Sachlichkeit selbst nicht bereit hält. Uecker zeigt, wie sich verschiedenste Autoren an dem Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur produktiv abarbeiten und welches formale und inhaltliche Innovationspotenzial aus diesem Verhältnis erwächst. Er zeigt aber auch das Scheitern der Autoren an ihren eigenen theoretischen Vorgaben. Das Schlusskapitel widmet sich der zunehmenden, vielstimmigen und disparaten Kritik an der Neuen Sachlichkeit. In der Rekonstruktion dieser Kritik treten die zentralen Fragen der behandelten Autoren und Gruppen noch einmal plastisch hervor, es gelingt eine Bilanz aus der Binnenperspektive des Diskurses.

Die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Literatur erfährt eine konjunkturelle Verdichtung nach 1918. Dies geschieht wohl vor allem unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges, der das Vertrauen in die Fähigkeit der Literatur, Wirklichkeit zu erzählen, nachhaltig erschüttert hat. In der Tat könnte der Weltkrieg - jenseits monokausaler Beschreibungen - wichtiger, wenn nicht zentraler Impuls für die Konjunktur der Sachlichkeit gewesen sein. Beispielhaft für ein zeitgenössisches Bewusstsein dafür, dass die Erfahrung des Ersten Weltkrieges der Literatur der Neuen Sachlichkeit zu Grunde liegt, ist eine Formulierung Egon Erwin Kischs: "Nach dem Krieg sind alle Romankonflikte nichtig geworden, gemessen an den überwältigenden Erlebnissen des Weltkriegs." Auch Matthias Uecker zitiert diese Überlegungen Kischs und streut in seinen Ausführungen immer wieder Bemerkungen ein, die auf die Bedeutung des Weltkrieges zielen. Leider wird dieser Gedanke, entgegen der behaupteten Bedeutung, erstens nur kurz benannt und zweitens anhand von Thematisierungen und Verhandlungen des Krieges nicht ausreichend untersucht. Edlef Köppens Roman "Heeresbericht", den Uecker neben dem Werk Werner Beumelburgs in den Blick nimmt, ist ein überaus vielschichtiger und aufschlussreicher Text, aber er nimmt sowohl im Weltkriegsdiskurs als auch im Bezug auf die Neue Sachlichkeit einen Sonderrolle ein. Köppen betreibt selbst eine Historisierung und Problematisierung von Wirklichkeit und Sachlichkeit, die am Ende einer Entwicklung steht und daher - entgegen der Interpretation Ueckers - bereits zur Phase der Sachlichkeitskritik zu zählen wäre.

Es wären aber etwa die theoretischen Debatten im Umfeld des Potsdamer Reichsarchivs oder der Begriff der Wirklichkeit in der Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen, Krieg zu erzählen, zu nennen. Auch die Bedeutung der Vorabdrucke von Ludwig Renn und Erich Maria Remarque in Zeitungen für die Durchsetzung von Wirklichkeitsbehauptungen könnte angeführt werden. Kriegsbriefsammlungen und Bildbände verfolgen ganz ähnlich gelagerte Strategien. Zudem finden bereits während des Krieges wichtige Debatten statt, die das Verhältnis von Dokument und Fiktion, von Literatur und Wirklichkeit zum Gegenstand haben. Alle diese Aspekte hätten durchaus mehr Beachtung verdient, gerade weil der Erste Weltkrieg, auf seine kulturellen Effekte hin befragt, jene Provokation des Literarischen bedeutet, die Uecker in das Zentrum seiner Arbeit stellt. Es wäre also durchaus plausibel, den Beginn der Neuen Sachlichkeit um drei bis vier Jahre zurückzuversetzen. So gerieten die Verschiebungen von Expressionismus zu Sachlichkeit oder von Lyrik zur Fotografie mit Begleittext als Beginn der Neuen Sachlichkeit in den Blick. Allerdings würde dies wohl die ohnehin schon material- und umfangreiche Arbeit Ueckers überfordern. So bleiben solche Überlegungen späteren Arbeiten vorbehalten. Arbeiten, die mit dem vorliegenden Band ein wichtiges Fundament erhalten haben.

Zum Schluss kann man sich den Kommentar nicht verwehren, dass es wohl immer wieder der Preis ist, der es verhindert, dass solche profunden wissenschaftlichen Arbeiten den engen Kreis akademischer Gruppen überschreiten. Es ist eine (unfreiwillige) Pointe, dass eine Arbeit, die verschiedenste Versuche verzeichnet, über Texte auf Verstehensprozesse und Wissenssysteme ihrer Zeit einzuwirken, durch äußere Vorgaben kaum selbst die Möglichkeit entfalten kann, die Grenze zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit zu überschreiten und ihrerseits Wissen zu vermitteln.


Titelbild

Matthias Uecker: Wirklichkeit und Literatur. Strategien dokumentarischen Schreibens in der Weimarer Republik.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
567 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-13: 9783039110575

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