"Passt nicht ins Programm"

Zum Tode von Raul Hilberg (1926-2007)

Von Wolfgang WippermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Wippermann

"Passt nicht ins Programm" - mit dieser Begründung lehnte die Wissenschaftliche Buchgesellschaft meinen Vorschlag ab, das von dem Verlag "Olle & Wolter" übersetzte und herausgegebene Buch Raul Hilbergs über "Die Vernichtung der europäischen Juden" in ihr Programm zu übernehmen. Die auch von anderer Seite aus unternommenen Versuche, Hilberg in Deutschland bekannt zu machen - und "Olle & Wolter" zu retten, schlugen fehl. Der kleine Berliner Verlag hatte sich mit der teuren (aber keineswegs guten) Übersetzung von Hilbergs Werk, das auf dem damaligen Buchmarkt alles andere als ein Erfolg war, übernommen und ging pleite. Das war 1982/83.

Hilberg und sein Buch, das in der englischen Originalausgabe bereits 1961 erschienen war, um dann aber mehrmals verändert und erweitert zu werden, wurden hierzulande erst in den 1990er-Jahren bekannt, nachdem "Die Vernichtung der europäischen Juden" in der Schwarzen Reihe des Fischer Verlags erschienen war. Vorher passten beide nicht "ins Programm" und schienen nicht zeitgemäß zu sein. Warum?

Das lag wiederum an beiden - am Buch und seinem Verfasser. Der 1926 in Wien geborene Hilberg, der übrigens neben Englisch ein Deutsch mit einem leichten Wiener Akzent sprach, war 1939 mit seinen Eltern über Kuba in die USA emigriert und hatte dort nach seiner Militärzeit an der Columbia Universität studiert. Schließlich hatte er gegen den Rat seines Doktorvaters über ein Thema promoviert, das damals noch nicht mit einem Begriff bezeichnet wurde, den Hilberg selber nie mochte - "Holocaust". Damit wurde Hilberg zum Begründer der Holocaustforschung, der jedoch deshalb zunächst kaum beachtet wurde und froh sein musste, eine Professur an der kleinen und absolut nicht bekannten Universität (besser: dem College) Burlington im Bundesstaat Vermont zu bekommen.

Hilberg hat auch später keine akademische Karriere gemacht. Das hat ihn auch geprägt. Er war kantig, konnte sehr sarkastisch sein und überdeckte beides bei seinen öffentlichen Vorträgen und Auftritten durch einen gewissen rhetorischen overkill, was bei seinen Zuhörern jedoch äußerst wirkungsvoll war. Auch in persönlichen Gesprächen war er nicht besonders freundlich. Besonders unwirsch reagierte er einmal auf meinen durchaus ernst gemeinten und ehrfurchtsvoll vorgetragen Vergleich mit einem Propheten. Schon das Wort "Prophet" missfiel dem bekennenden Agnostiker Hilberg sehr. Außerdem nahm er für sich in Anspruch, alle oder fast alle Akten zu kennen - in Archiven bestellte er gleich immer alles und ignorierte die Findbücher völlig. War er doch der felsenfesten Meinung, mit diesen Akten die Wahrheit erfassen zu können.

Ein Historiker mit einem derartigen methodischen Selbstverständnis passte wirklich vielen nicht ins "Programm". Zunächst vielen seiner akademischen Kollegen im Amerika der 1950er- und 1960er-Jahre nicht, die sich im Zeichen einer Faschismus und Kommunismus vergleichenden und auch weitgehend gleichsetzenden Totalitarismustheorie vornehmlich mit dem Kommunismus auseinander setzten, weil dieser im Unterschied zu dem angeblich toten Faschismus noch höchst lebendig und gefährlich sei.

Dass die deutschen Faschismusforscher und -theoretiker der 1960er- und auch noch der 1970er-Jahre mit dem rein empirisch arbeitenden Hilberg nicht viel anfangen konnten, muss nicht eigens gesagt werden. Außerdem beschäftigte sich der Historiker mit einem Thema, das in den damaligen Handbüchern und Überblicksdarstellungen zum "Dritten Reich" oder dem "Staat Hitlers", der mit "Verführung und Gewalt" in Deutschland geherrscht habe, meist nur zehn bis zwölf Seiten einnahm, auf denen zudem noch allein das Schicksal der deutschen Juden, nicht aber derjenigen in den riesigen besetzten Gebieten, im Mittelpunkt stand.

Von den israelischen und später auch einigen jüdischen Historikern, die sich nach, teilweise jedoch auch schon vor ihm mit der "Shoah" auseinandersetzen, trennte Hilberg die Konzentration auf die Täter. Nicht dass Hilberg die Opfer vernachlässigt hat, er hielt ihre Zeugnisse nur nicht für so aussagekräftig wie die der Täter, in denen er zudem nicht das fand, was gerade die israelischen Historiker am meisten interessierte - den jüdischen Widerstand. Sein (angebliches!) Fehlen ist bekanntlich von Hannah Arendt in "Eichmann in Jerusalem" skandalisiert worden, was eine bis heute anhaltende Kontroverse auslöste (in der es auch um die angebliche Kollaboration der "Judenräte" ging). Sie wurde allerdings nach Hannah Arendt und nicht nach Hilberg benannt. Dabei hat sich Arendt auf Hilbergs Dissertation gestützt, ohne dies jedoch immer ganz anzugeben. Das hat Hilberg furchtbar geärgert.

Generell ist ihm nicht das gelungen, was offensichtlich der Traum eines jeden, vor allem deutschen Historikers ist - eine Kontroverse auszulösen und gleichzeitig mit dem eigenen Namen zu besetzen. Es hat nicht nur keine Hilberg-Kontroverse gegeben, Hilbergs Name fehlt auch in den sonstigen Debatten zu Holocaust fast völlig. Dies gilt für die zwischen den "Intentionalisten" und "Funktionalisten" ebenso wie für die, die über den angeblich "modernen" Charakter des "Dritten Reiches" sowie vor allem über "Resistenz" und "Widerstand" im selbigen geführt wurden. Für die sonstigen theoretischen Höhenflüge über die "Dialektik der Aufklärung", die "Ambivalenz der Moderne", den "Fortschritt oder Rückfall in die Barbarei", das "Niemandsland des Verstehens", den "Zivilisationsbruch" et cetera hatte Hilberg nur Verachtung übrig. Und zwar eine, wie ich mich erinnere, schnaubende. Von irgendwelchen religiösen oder pseudoreligiösen Sinngebungen des "Holocaust" und ihren pädagogischen Umsetzungen hielt er gar nichts.

Er war ein Mann der Quellen und Meister ihrer Interpretation. Und über beides hat er bis zum Schluss geforscht und publiziert: 1992 erschien "Täter, Opfer, Zuschauer" und 2002 "Quellen des Holocaust". Dazwischen seine bissig formulierten "Unerbetenen Erinnerungen", in denen er dargelegt hat, warum er nicht "ins Programm" gepasst hat.

Die "Eule der Minerva" beginnt ihren "Flug" bekanntlich in der "Dämmerung". Hilberg, dem diese Metapher zuwider gewesen wäre, hat jedoch seine späte, aber dann um so nachdrücklichere Würdigung noch erleben dürfen. Er ist am 4. August in Burlington/ Vermont gestorben. Sein Hauptwerk "Die Vernichtung der europäischen Juden" wird ihn überleben. Wird es doch zu den 50 Klassikern der Zeitgeschichte gezählt. Jetzt "passt es ins Programm".