Dynamik des nationalsozialistischen Völkermords

Jacek Andrzej Mlynarczyk schildert den "Judenmord in Zentralpolen"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bis heute erscheint das Grauen, das die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges in die mittel- und osteuropäischen Länder brachte, unfassbar. Die rücksichtslose Kriegsführung forderte in den von den Deutschen besetzten Ländern unermessliche Opfer. Die Maßstäbe des zivilisatorischen Lebens gingen verloren. Mord und Totschlag wurden zum alltäglichen Mittel der Machtausübung. Die unterdrückten Menschen hatten sich einzurichten in der Allgegenwart des Todes. Das betraf vor allem die jüdische Bevölkerung in den besetzten Ländern. Systematisch betrieben die Eroberer ihre Diskriminierung, ihre Ausbeutung und schließlich ihre Ermordung. Polen war das erste Land, das die schreckliche Macht der Deutschen zu spüren bekam. Hier begann die systematische Vernichtung der Juden in Europa.

Das Morden verlangte Organisation. Der "Judenmord" war ein ,vernünftiger' Plan, der mit den Mitteln ,vernünftiger' Bürokratie und Logistik ausgeführt wurde. Wie dies genau geschah, untersucht der polnische Historiker Jacek Andrzej Mlynarczyk für den Distrikt Radom in Zentralpolen. Der Distrikt war eine von den deutschen Besatzern geschaffene Verwaltungseinheit im "Generalgouvernement (für die besetzten polnischen Gebiete)". Zum Distrikt gehörten Gebiete der ehemaligen Woiwodschaft Kielce und Teile der ehemaligen Woiwodschaft Lodz mit den Städten Radom, Kielce, Tschenstochau, oder Koskie. Im Distrikt Radom lebten nach einer Zählung der deutschen Besatzer Ende 1941 333.555 Juden. Im Rahmen der "Aktion Reinhardt", wie die Vernichtung der Juden in den fünf Distrikten des Gerneralgouvernements genannt wurde, wurden diese Menschen bis auf wenige Tausend ermordet. Insgesamt wurden über 2 Millionen Juden sowie etwa 50.000 Roma aus dem Generalgouvernement ermordet.

Im Distrikt Radom lebten Juden bereits seit dem 14. Jahrhundert. Sie stellten in der alten Woiwodschaft Kielce knapp ein Drittel der Bevölkerung. "Es gab dort sogar Ortschaften", so führt der Autor in einem einleitenden Kapitel zu den Lebensbedingungen der Juden vor 1939 aus, "die einen nahezu vollständigen jüdischen Charakter hatten." Die jüdische Bevölkerung war in Gemeinden organisiert, die nicht nur "praktisch alle Lebensbereiche" ihrer Mitglieder beeinflusste, sondern auch "in offizieller Hinsicht dem polnischen Staat gegenüber eine bedeutende Rolle" als vermittelnde und repräsentative Organisation spielte. "Patriotische Gesten an den nationalen Feiertagen, die Teilnahme an bedeutenden politischen Ereignissen oder finanzielle Unterstützung in Fällen nationaler Notlagen, wie Hungerkatastrophen u.ä., konnten die Wahrnehmung der gesamten jüdischen Gemeinschaft durch die polnische Gesellschaft entscheidend beeinflussen."

Doch konnten solche Gesten die antisemitischen Stimmungen und rechtsnationalen Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung nicht bremsen. "Erst die Bedrohung des Staates, verbunden mit dem Ultimatum Hitlers an Polen im Jahr 1939, bewegte beide Bevölkerungsgruppen zu gegenseitiger Annäherung und kurzzeitiger Beilegung der Konflikte."

Die Rahmenbedingungen änderten sich nach dem deutschen Einmarsch in Polen. Bereits während der Besetzung war es zu grausamen Übergriffen von Wehrmachtsangehörigen gegen die Zivilbevölkerung und besonders gegen die Juden gekommen. Ausführlich beschreibt der Autor die nun folgende Organisation der Besatzung im Distrikt Radom und die "Einleitung der regulären Judenverfolgung". Sie begann mit der Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung. Radikalisierend wirkten sich einzelne Maßnahmen aus, wie der "Schießbefehl", der es den Ordungskräften erlaubte, Juden ausserhalb des Ghettos sofort zu erschießen.

Die Radikalisierung der gegen die Juden gerichteten Maßnahmen mündete schließlich in der Vernichtung der Menschen in eigens dafür eingerichteten Vernichtungslagern. "Heraufbeschworen wurde diese extreme Radikalisierung durch eine Reihe gebündelt auftretender Bedingungen, die in Kombination mit einigen rationalen Erwägungen eine eliminatorische Atmosphäre schufen, in welcher der Völkermord als eine annehmbare Lösungsmöglichkeit aller auftretenden Probleme allgemeine Akzeptanz finden konnte." Mlynarczyk rekonstruiert präzise die zwischen dem 4. August 1942 bis zum 7. November durchgeführten brutalen Deportationen aus den Ghettos in das Vernichtungslager Treblinka. Nur wenige Tausend "arbeitsfähige" Juden blieben zunächst in so genannten "kleinen Ghettos" und wurden später in Zwangsarbeiterlagen überführt. Noch geringer war die Zahl derjenigen, die als Flüchtlinge auf der "arischen Seite" überleben konnten.

Für alle Stadien der Judenverfolgung von der Registrierung über die Ghettoisierung, der Zwangsarbeit bis zur Vernichtung analysiert Mlynarczyk auch die Haltung der "christlichen Bevölkerung" zu den Geschehnissen, die vor ihren Augen abliefen. Der Antisemitismus der polnischen Bevölkerung spielte den Deutschen in den Händen. Der Autor enthält sich einer Wertung, verweist statt dessen auf die brutale Herrschaft der Deutschen, die ein aktives Mitleid, gar Hilfe für die Gepeinigten zu verhindern suchte. Dennoch möchte man fragen: Was wäre geschehen, wenn die polnische Bevölkerung massiv für ihre Mitbürger eingetreten wäre?

So blieben die Juden allein auf sich gestellt. Mlynarczyk geht auch der Frage nach, warum es bis auf einzelne Ausnahmen zu keiner Gegenwehr kam. Er weist darauf hin, dass die meisten Juden dazu physisch überhaupt nicht mehr in der Lage waren. Ausgehungert und durch die bisher erlebten Erniedrigungen auch psychisch völlig erschöpft, konnten sie die nötige Energie nicht mehr aufbringen. Das ungeheure Geschehen nahmen viele von ihnen bereits aphatisch hin. Die unfassbare Dimension des Verbrechens gab auch keine Anhaltspunkte oder Erfahrungswerte, nach denen man das eigene Verhalten hätte ausrichten können. So flüchteten viele Juden in verdrängende Rationalisierung. Sie erklärten die Brutalitäten bei den Deportationen "mit einer vermeintlichen Schuld der Opfer [...], die je nach Situation ,zu alt', ,zu jung', ,zu krank,, ,zu frech', ,zu langsam', ,zu schnell', ,zu unachtsam' und dadurch selbst für die jeweilige Erschießung verantwortlich gewesen seien. Auch in den Güterwaggons während der Reise nach Treblinka hörte man Stimmen, daß der Transport für die Arbeit im Osten bestimmt sei und es gegen jede Logik wäre, so viele für die Wirtschaft brauchbare Menschen umzubringen."

Mlynarczyks Buch ist eine sorgfältig aufgearbeitete Darstellung des "Judenmords" in einer Region Zentralpolens von der Vorbereitung bis zur Durchführung. Es zeigt die Entwicklung einer ,Logik des Völkermordes' und wie sie auf Erfüllung drängte. Ein traurig stimmendes Buch, zugleich aber auch ein solches des mahnenden Gedenkens.


Titelbild

Jacek Andrzej Mlynarczk: Judenmord in Zentralpolen. Der District Radom im Generalgouvernement 1939-1945.
wbg – Wissen. Bildung. Gemeinschaft, Darmstadt 2007.
410 Seiten, 79,90 EUR.
ISBN-13: 9783534202669

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