Engel im freien Fall

Barbara Gowdys tragisch-bizarre Familiengeschichte

Von Sigrid BornRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sigrid Born

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wieviel Leid erträgt eine Familie? Diese Frage stellt man sich bei "Fallende Engel" immer und immer wieder. Es ist die Geschichte von Norma, Lou und Sandy, ihrem unberechenbaren Vater und ihrer alkoholkranken Mutter, die nur ein Mal im Jahr - Weihnachten - das Haus verläßt und ansonsten in einer Traumwelt vor dem Fernseher lebt, und das Testbild mit einschließt. Weihnachten 1959 erfahren die Mädchen durch Zufall, dass ihre Mutter einen Sohn hatte, Jahre bevor sie geboren wurden. Rätselhaft war sein Tod als Baby, und die Spekulation über sein Sterben wird zu einem Geheimnis, das die Schwestern verbindet. Zugleich schafft diese Tatsache Verständnis für die Mutter, die am Leben der Mädchen kaum Anteil nimmt.

Nach außen vermittelt die Familie das Bild einer normalen Gemeinschaft, doch Besuch wird fast nie eingeladen, denn dann könnte der angeblich so intakte Mikrokosmos zerfallen. Noch als Kinder wagen die Mädchen einen einzigen Versuch wegzulaufen, doch dies wird noch nicht einmal bemerkt, "und ihre Mutter sagte einfach nur Hallo, obwohl sie weder Lunch noch Abendessen gemacht hatte. Ihr Vater musste länger arbeiten, sagte sie, ihre Augen wandten sich wieder dem Bildschirm zu." Beinahe körperlich ist der Schmerz, den der Leser angesichts solcher Szenen empfindet, und wann immer eine Situation Hoffnung auf Besserung oder Zuneigung aufkeimen lässt, wird sie gründlich vernichtet. Schuld daran ist der Vater, dessen unberechenbare Verrücktheiten die Töchter wie den Leser in Atem halten. Schon fast grotesk ist z. B. die Episode, in der der Vater einen atomsicheren Bunker baut. Zwei Wochen lang zwingt er seine Familie, dort eingesperrt zu leben. In dieser Extremsituation ohne Fernseher zeigt seine Frau Gefühle und Verständnis, allerdings auf ihre charakteristische Weise: "Ihre Mutter war so besorgt und wütend, wie die Mädchen sie noch nie gesehen hatten. Sie widersetzte sich dem Befehl ihres Vaters, Sandy hinter einem Plastikvorhang unter Quarantäne zu halten, und ließ sie bei sich liegen. Jede Stunde maß sie ihr das Fieber und hielt ihr den Becher Whisky an die Lippen."

Die Tragik dieser Familie liegt im plötzlichen Tod der Mutter, des Sohnes und schließlich des Vaters, übrigens alles Abstürze, und dieses Schicksal zeichnet das Leben der Töchter. Man sollte meinen, dass auch die drei Schwestern "abstürzen", was sie im übertragenen Sinne beinahe tun: Sandy lässt sich mit unzähligen älteren Männern ein, Lou nimmt Drogen, Norma verliebt sich in ein anderes Mädchen. Alle drei erfahren Rückschläge in ihren Beziehungen, und doch gelingt es ihnen irgendwie, ihr Leben zu meistern. Ohne es genau zu merken geben sich die Schwestern gegenseitig Kraft und schöpfen Stärke aus ihrem Zusammenhalt und ihrer Zuneigung.

Sehr präzise geschilderte Charaktere und Situationen sind Barbara Gowdys Stärke; die Kraft der Worte überzeugt auch in der Übersetzung dieses Romans. Immer wieder schafft sie es, Unerträgliches durch Komik zu entschärfen - doch hier bleibt einem das Lachen im Halse stecken, so sehr überwiegen die tragischen Elemente.

Titelbild

Barbara Gowdy: Fallende Engel. Aus dem Englischen von Sigrid Ruschmeier.
Verlag Antje Kunstmann, München 1992.
220 Seiten,
ISBN-10: 3888970644

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