Sklaven der Unterwelt

Albert Sánchez Piñols Roman "Pandora im Kongo" lässt grausame Kolonialgeschichte aufleben und bringt ungeheuerliche Erdwesen ins Spiel

Von Sönke AbeldtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sönke Abeldt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kann das sein? Unbekannte Wesen steigen aus dem Innern einer Goldmine im Kongo? Weißer als die Weißen, kahle Halbmenschen mit ovalem Kopf, Fledermausohren und sechs Fingern an jeder Hand?

Albert Sánchez Piñol, von Haus aus Anthropologe und Afrika-Kenner, schockt den Leser mit seinem jetzt auf Deutsch veröffentlichten Roman "Pandora im Kongo" (Original "Pandora al Congo", 2005). In seinem ersten Buch "Im Rausch der Stille" ließ der Katalane glitschige Meeres-Ungeheuer an Land kriechen. Nun sind es Erdwesen aus der Unterwelt, die einer britischen Goldgräberexpedition das Leben zur Hölle machen.

Ausbeuter am Werk

Sánchez Piñols Roman beginnt durch und durch realistisch - ganz in der Tradition von Joseph Conrads "Herz der Finsternis". Er spielt vor dem Hintergrund der keinesfalls ruhmreichen Kolonial-Geschichte am Vorabend des Ersten Weltkrieges. Groschenroman-Autor und Ich-Erzähler Thomson wird beauftragt, die Geschichte des Gefängnisinsassen Garvey aufzuzeichnen: Dieser war von einer Goldgräberexpedition aus dem Kongo zurückgekehrt und ist des Mordes an zwei britischen Aristokraten angeklagt, die den Trupp anführten. Garvey berichtet, wie sich die Männer im Goldrausch befinden, mit Hilfe versklavter Afrikaner durch den Urwald schlagen, wie sie ohne Augenzwinkern ganze Dörfer und Menschen in die Luft sprengen und im tiefen Dschungel gierig eine Mine ausheben.

Der Roman bildet das Drama des Kongo ab: 1482 hatten die Portugiesen diesen Teil Afrikas "entdeckt" und unterworfen. Mitte des 19. Jahrhunderts kamen die britischen Forscher Livingstone und Stanley. Der belgische König Leopold II - "einer der berüchtigtsten Schlächter" (Noam Chomsky) - erklärte den Kongo zu seinem Privatbesitz und verkaufte das Land Anfang des 20. Jahrhunderts an den Staat Belgien. Kurzum, Sklavenhandel, Christianisierung und der Kampf um Ressourcen (damals: Elfenbein, Kautschuk, Kupfer, Diamanten, Tropenhölzer, heute: Coltan) bestimmen die Geschicke des Landes seit jeher.

Fantastischer Dreh

Die ersten sechs Kapitel von Sánchez Piñols Roman schildern die Grausamkeiten der Ausbeuter. Schon das ist kaum steigerbar. Doch als ob das nicht schon gruselig genug wäre - jetzt kommt der fantastische Dreh: Zum Schrecken der Eroberer gelangen unheimliche menschenähnliche Wesen aus der Mine ans Tageslicht, die "Tektoner".

Da quetscht sich ein betörendes Tektonerweibchen aus dem Erdloch. Man versucht, es zu domestizieren. Garvey verliebt sich in sie und erlebt mit ihr höchstes erotisches Glück in den Gipfeln des Regenwaldes. Zudem muss sich die Expedition einer ganzen Armee von Tektonern erwehren und wird in das Erdreich entführt. Sánchez Piñol konstruiert hier keine wohl geplante Verne'sche "Reise zum Mittelpunkt der Erde", sondern einen wahren Horror-Trip. Denn die Tektoner sind - wie die Männer feststellen müssen - in Sachen Sklavenhaltung weitaus geübter als die Weißen selbst. Am Ende kann sich nur Garvey aus Unterwelt und Dschungel retten.

Der Roman ist trotz einer Länge von 480 Seiten spannend und enthält brillante Beschreibungen. Unterbrochen wird der Plot immer wieder von den Reflexionen des Erzählers Thomson: Was ist Recht, was Unrecht? Und: Ist das wirklich passiert, was Garvey da erzählt? Oder ist alles nur Fiktion, bloßer Text? Thomson scheitert an diesen Fragen. Er wird Teil des Berichtes, indem er sich mit dem brutalen Kolonialisten solidarisiert, Gefühle für die femme fatale aus dem Erdreich entwickelt und zwischen Verurteilung und Verständnis für die Verbrechen der Eroberer schwankt.

Sühne für die kolonialen Verbrechen?

Mit Distanz gelesen, nehmen sich die Fantastereien von "Pandora im Kongo" jedoch nahezu metaphysisch aus. Nicht von ungefähr verweist Sánchez Piñol auf die griechische Pandora im Titel seines Romans: Zeus hatte die urgewaltige Erdgöttin aus Lehm geschaffen; ihre "Büchse" brachte alles Übel über die Menschheit. Nur, wir wissen es besser: In Wirklichkeit waren es die Kolonialisten, die das Unheil im Kongo anrichteten.

"Das Unbegreiflichste am Grauen ist, dass es daran nichts zu begreifen gibt", lässt Sánchez Piñol seinen Ich-Erzähler Thomson sinnieren. Mit den Tektonern tritt das Ungeheuerliche in die Wirklichkeit. Und das ist die metaphorische Ebene des Romans: Die Erdwesen füllen die Verstehenslücke, die das Grauen lässt. Sie bringen Verdrängtes zum Vorschein - beispielsweise die (unbewusste) Angst der Kolonialisten vor der Rache der Ausgebeuteten.

Werden die Eroberer eines Tages für das büßen, was sie angerichtet haben? Diese Frage stellt Sánchez Piñol: "Was ist der Kongo? Der Kongo ist kein Ort. Der Kongo ist die andere Seite des Universums. Unter allen möglichen Kongos gibt es einen, der zur Sühne gereicht."

Titelbild

Albert Sánchez Piñol: Pandora im Kongo. Roman.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Charlotte Frei.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
480 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783100616036

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