Leicht wie Luft, schwer wie Blei

Eine Erzählstimme, ein Mietshaus, ein Roman: Sigrid Behrens' Debütroman "Diskrete Momente"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Es ist Nacht. Ich baue ein Haus. Ich stelle es vor mein Fenster, damit ich es genau anschauen kann."

Wer seine Freunde vor Sigrid Behrens warnen will, lernt allerlei Neues: "Lies das bloß nicht, lass es sein!", drängt man sein Gegenüber. "Sigrid Behrens ist als Theaterautorin recht erfolgreich - doch ihr Prosadebüt kann man sich sparen! Es geht um ein Mietshaus in einer fiktiven Stadt, Ende Oktober, in der Nacht der Zeitumstellung. Ein anonymes Beobachterauge schleicht durch die Zimmer und beschreibt die Wohnungen und ihre Mieter in bleischweren Endlossätzen." Man nippt am Holunderblütentee, blinzelt durch den schweren Rauch von filterlosen Zigaretten, mustert die Schwarzweißfotos an den Wänden, die Edition-Suhrkamp-Bändchen im Regal. "Fast 160 Seiten Wohnungsbeschreibungen, total verquaster Sekundenrealismus. Schrecklich!"

"Ach", sagt sie, dreht sich eine neue Zigarette und beginnt zu erzählen: Vom Nouveau Roman, den avantgardistischen Sprach- und Formexperimenten der 1950er- und 1960er-Jahre. Von Raymond Queneaus "Stilübungen", von Alain Resnais' "Letztes Jahr in Marienbad", von Francis Ponge, Alain Robbe-Grillet und Philippe Jaccottet. Geschichten ohne Geschichte, Texte ohne Protagonisten und Dramaturgie. Abstrakte Erzählungen, die das Erzählen sachlich austarieren wollen. Sie streichelt ihren dürren Kater, kramt schließlich einen Roman hervor, "Das Leben. Gebrauchsanweisung" von George Perec: "Die Beschreibung von 99 Räumen eines Mietshauses, Rue Simon Crumbellier 11, in 99 Kapiteln. Jedes Kapitel ist ein Jahr. Jedes Kapitel ist eine Geschichte."

"Sieben Geschichten aus zahllosen Namen, so zum Beispiel könnte es sein."

Sigrid Behrens' Roman verfolgt sieben Mietparteien, sieben knappe Geschichten aus der gedoppelten Stunde zwischen 2 Uhr und 3 Uhr: Der Witwer Adam weckt frische Birnen ein und will Kanarienvogel Hansi die Stimme seiner toten Ehefrau beibringen. Die sterbende Dora lässt Krieg, Vertreibung und Neuanfang ein letztes Mal vor ihrem geistigen Auge vorüberziehen. Der Systemadministrator Robert sitzt in seinem kargen Arbeitszimmer und protokolliert das Verschwinden aller Gegenstände, die er aus seinem Leben beseitigt hat: "Er, Robert, bietet sich die Stirn, er, Robert, gibt seinen Schritten einen Namen, behält sie als greifbare Daten zurück. Täglich muss er sich fragen, wie lange sie Bestand haben werden (jeder einzelne Schritt) (im Raum, in der Zeit). Er macht sich Sorgen: er zweifelt an ihrer Gültigkeit, auch fürchtet er Blicke, die nicht die seinen wären. Robert betrachtet Grundrisse und Listen und geographische Räume, anstatt auf den Balkon zu treten oder in fremde Gesichter zu schauen (zum Beispiel: in deines), er hält sich lieber in Daten auf, als dass er sich aufhalten ließe von Zeiten, die man gemeinsam erinnert, von fremden Menschen in fremden Zimmern, oder vom immer gleichen Leuchten der Stadt."

"Wichtelspaß! Wichtelspaß!" gluckst es aus dem Telefonhörer, "In jedem Raum eine Geschichte! Das ist wie bei Cornelia Funkes 'Hinter verzauberten Fenstern', 24 tolle Wichteltexte, und dann ist Heiligabend!" Na ja: Wichtel kommen nicht vor. Doch vieles andere, was sentimentalen Buchhändlern und satten Kritikern gut gefällt: traurig-melancholische Figuren, perspektivische Spielchen, Konsumkritik. So übermalt die alte, paranoide Dora alle Spiegel und Uhren (und natürlich die schlimme Mattscheibe des seelenfressenden TV-Geräts) mit weißer Farbe. Der alte, neurotische Adam mokiert sich über Geschmacksverstärker im Essen und die Wegwerfmentalität der jungen Leute. Die alte, überspannte Helene (fünf von sieben Figuren dieses Romans sind alt. Sieben von sieben Figuren dieses Romans sind altmodisch.) kaut schlaflos altbekannte Befindlichkeitsklischees aus dem Herbst weiblichen Lebens durch: "Dass ich dachte, beim Abwischen meiner Brillengläser: wie fern es mir liegt, das Wesen dieser Kinder. Wie fremd ihre Züge. Sie scheinen mir so ungebrochen, so unantastbar, nah bei sich. So ungleich klarer, denke ich, und: fraglos eins mit ihrer Zeit. Dass ich meine, eine Ahnung zu haben davon, was sie zum Schutz von sich verbergen (Dass ich denke: ich bin sehr alt.) ((Dass ich mich frage: nennt man das Neid.)) Ich hätte dich gerne als Kind gekannt, ich sähe gern, was du dir erhalten hast durch deine Jahre, sehe ich ab von dieser zarten Haut hinter deinem Ohr." Beim Drüberlesen klingt das wie Monika Maron oder Undine Gruenter. Nur nicht so rhythmisch. Weniger überlegt. Weniger lebenserfahren, fesselnd, lesbar. Überladen. Und trotzdem irgendwie substanzlos. Leicht wie Luft, schwer wie Blei.

"Ein Zeitfenster hohl, mit scharfen Kanten, weit dunkler als die sie umgebende Nacht, in das ich nächtens hineinsehen kann, aus meinem papierenen Kopf heraus."

Er streicht sich den Pony aus der Stirn und drückt auf Play: "Und wir kennen die Stellen / an denen Sachen geschahen", singt Thees Uhlmann, "Wir kennen die Gerüche / und wir kennen die Gegenstände / und wir können spüren, wie sie die Form verlieren." Tomte, "Hinter all diesen Fenstern", 2003. "Man kennt das ja", sagt er, "Tarantinos 'Four Rooms', Sherwood Andersons 'Winesburg, Ohio', oder dieser HBO-Frauen-Episodenfilm, 'Haus der stummen Schreie'. Derselbe Ort, viele Geschichten."

Geschichten - genau daran fehlt es diesem Debütroman: Die Beschreibungen bleibt zu skizzenhaft, die Autorin konzentriert sich auf Endlossätze ohne Rhythmusgefühl, auf selbstverliebte Kamerafahrten ("Ich bin in das Photo gestiegen, das über dem Esstisch hängt, jetzt bin ich drin und kann mich durch die Zimmer bewegen."). Als sie 2006 einen Auszug ihres Manuskripts beim Bachmannpreis las, nannte Juryvorsitzende Iris Radisch den Text "geschwollen und gestelzt", "zu tapsig, zu wabernd das alles."

Halbwegs lebhaft und plastisch erzählt wird nur eine der sieben Geschichten: In "Diskrete Momente" geht es um den melancholischen Schalterbeamten Karl. Als Nachtwagenschaffner fuhr er jahrelang durch ganz Europa, bis er sich im Pariser Nachtcafé "Terminus" in die schöne Bardame Lucie verliebte. Zwei Nachtfalter, die sich zaghaft im schweren Rauch der filterlosen Zigaretten umflatterten. Ein handfester Plot, eine klare Sprache, ein Spannungsbogen gar - und fraglos die beste Passage des Buches! Doch sie offenbart sehr deutlich: Sobald Behrens auf ihre schlimmen sprachlichen Verneblungstaktiken verzichtet, sobald man mühelos erkennen kann, worauf die Autorin hinauswill, sieht man auch: Da ist nicht viel. Nur Klischees. Und Penetranz.

Was also ist besser? Die sibyllinische Sigrid, bei der man kaum etwas versteht, wie im "Dora"-Kapitel von "Diskrete Momente": "Vater sagt - er spricht wie - ich du sagst es selbst nur - deshalb habt ihr - euch - in Zukunft - behalten sage ich - ja- in einer Zukunft auch meiner deine - liebe - teure Stimme sage ich - ja c'est bon - c'est fait c'est - gut dich bei mir zu haben in seiner Stimme Père - das - mon cher - der wahre Grund."?

Oder lieber - etwas später in Behrens' Buch - glasklar (und durchschaubar) erzählt? "Wie ich es genoss, sie in der Ferne zu wissen, in ihrer Ferne mir so nah; ihr Postkarten zu senden aus Städten, die ich mit ihren Augen sah, Liebe Lucie, weißt du noch, Liebe Lucie, hier fehlst nur du, Liebe Lucie, so ist es wieder, Liebe Lucie, wann sehen wir uns."

Beides überkandidelt, leblos, fad. Denn die Wände, die Behrens sprechen lässt, haben wenig zu sagen.


Titelbild

Sigrid Behrens: Diskrete Momente.
Carl Hanser Verlag, München 2007.
160 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783446208155

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