Vorwärts und rückwärts gewandt

Fred Wanders Emigrantenroman "Hôtel Baalbek" in einer Neuausgabe

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Baalbekmenschen" - so nennt der Erzähler in Fred Wanders letztem Roman jene, die wie er selbst im Sommer 1942 Zuflucht in einem schäbigen Marseiller Hotel namens Baalbek fanden. Und auf ein Wunder hofften: auf das Eingreifen der Alliierten, ein Ausreisevisum oder ein Affidavit aus Amerika. Für die meisten seiner Bewohner wird das Hotel zur Falle, als die Deutschen bald darauf die Stadt besetzen. Für den Erzähler wird das Hotel vor allem ein Ort der Initiation. Später, in Auschwitz, gibt ihm die Erinnerung an das Baalbek und seine Menschen die Kraft zu überleben.

Denn auf seinen überfüllten Gängen lernt der unerfahrene Jüngling aus Wien das europäische Judentum kennen. Begegnet Viehhändlern aus Odessa, einem Kürschner aus Krakau, einem Schneider aus Lodz. "Das Haus kochte, glühte, träumte, es bekam seinen Geschmack, den fremdartigen, mir heimeligen Geruch, diesen Schimmer wie von Altsilber und Gold in meiner Erinnerung, von einem schönen jüdischen Mädchen, einem mir unbegreiflichen Wesen. Aber ich übertreibe wahrscheinlich, die Zeit hat eine Patina, eine glitzernde Folie über das Baalbek gelegt."

Das Hotel des Monsieur Haschami ist eine Brutstätte von Gerüchten und Geschichten, von Hirngespinsten und aberwitzigen Hoffnungen, ein "Ort der Verwandlung, ein siedender Kessel voll von seltsamen Charakteren". Und ein großartiges Setting für Wanders Hauptmotiv, die Intensivierung der Lebenslust im Angesicht des Todes. Sie lässt sich bereits an der 14-jährigen Judith studieren, einer "frühreifen, verhexten Jüdin", die ahnt, wie kurz ihr Leben sein wird, und voller Neugier und Verzweiflung den Männern nachstellt.

"Der Krieg hatte alles durcheinandergebracht, auch die Liebe" - Wanders letzter Roman ist ebenso sehr ein großer Emigranten- wie ein ergreifender Liebesroman. Der Erzähler, ein "Nomade" und "Augenmensch", der seinem 2006 verstorbenen Autor zum Verwechseln ähnlich sieht, liebt zwei Frauen: Lily, die Frau eines Freundes, und Katja, das scheinbar brave jüdische Mädchen, das Hegel liest und sich längst dem Widerstand angeschlossen hat. Für Katja ist der Erzähler nur ein Träumer, den sie benutzen kann; er wird bei ihren Aktionen ihr Leibwächter, ihr Alibi. Und er verzehrt sich vor Eifersucht, wenn sie nachts bei Alain, dem "Büffelkopf" und Anführer der Maquisard, verschwindet.

Bei seinem Erscheinen 1991 fand "Hôtel Baalbek" wenig Beachtung. Dabei ist der jetzt bei Wallstein neu aufgelegte Roman ein ebenso reiches, weises, atmosphärisch dichtes Buch voller Leben wie Wanders KZ-Roman "Der siebente Brunnen". Auch den Vergleich mit Anna Seghers "Transit", mit dem "Hôtel Baalbek" etliche Motive und den mündlichen Duktus teilt, braucht es nicht zu scheuen, im Gegenteil. Der österreichisch-jüdische Autor, der sich 1942, also zwei Jahre nach Seghers, in Marseille aufhielt, löst die Chronologie auf und lässt die Zeitebenen sich überlagern.

Immer wieder verliert sein Erzähler den Faden und setzt neu an, in schier endlosen, der labyrinthischen Erinnerung nachgebildeten Sätzen: "Denn nur im zweifachen Erinnern, vorwärts und rückwärts gewandt, sind die Ereignisse zu erkennen, wir leben nicht in der Gegenwart, leben in einem Nebel aus geronnener Zeit, gefrorenem Blut, Vergangenheit und Zukunft sind darin vermischt, und er (der Erzähler) sollte die Bilder zurechtrücken und einordnen, von diesen Menschen, die wir gesehen haben, und die wir wiedersehen sollten, erschlagen, auf dem Boden ausgestreckt."


Titelbild

Fred Wander: Hotel Baalbek. Roman.
Mit einem Nachwort von Erich Hackl.
Wallstein Verlag, Göttingen 2007.
240 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783835301504

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