Jedermann hat einen neuen Namen

Anmerkungen zu Michael Kleebergs Roman "Karlmann"

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Karlmann" ist ein Roman über das normale Leben, über Alltäglichkeit und ihre allumfassende Gegenwärtigkeit. Protagonist des Romans ist Charly Renn, von seinem Vater in unangenehmen Momenten seines Lebens "Karlmann" genannt: "Karlmann, Karlmann, als mache es ihm Spaß. Er sieht, die Ton- von der Bildspur abkoppelnd, diesen Mann [seinen Vater, A. d. V.] an, hochgewachsen und schlank im großen und ganzen noch immer, wie er selbst." Der Vater-Sohn-Konflikt spiegelt wieder, was im gesamten Roman sprachlich virtuos extemporiert wird. Er zeigt die "Spannungsbögen der Normalität". Dies macht die Fülle an Geschichte, oder eher die Dichte der Hauptfabel, aus, die in der Konfrontation von Literatur und Alltäglichkeit liegt.

Der Rahmen der Handlung wird auf einzelne, kurze Zeitabschnitte aus dem Leben des Protagonisten konzentriert. Um diese abzubilden, wird die Szenenauswahl auf fünf zeitlich jeweils ungefähr ein Jahr auseinander liegende Einblicke in das Leben von Charly "Karlmann" Renn beschränkt. Dabei wird dem Leser spätestens nach dem zweiten längeren Abschnitt klar, worum sich alles dreht: um Poesie, um "Poesie des Alltags", letztendlich um die "Poesie der Geschichte". Aber wie das? Die "Handlung" setzt im Juli 1985 ein, während des Tennismatches von Boris Becker in Wimbledon. Hier findet man eine exzellente literarische Darstellung eines sportlich historischen Moments, der darüber hinaus noch vielen Menschen in der Gegenwart bildlich vor Augen steht. Der Protagonist sieht sich den Zweikampf auf dem Sofa sitzend im Fernsehen zusammen mit seinen Freunden an. Darüber hinaus ist es der Tag seiner Hochzeit, am Abend heiratet er Christine. Karlmann favorisiert Becker, ist hin- und hergerissen und perspektiviert den Ausgang des Tennisspiels auf den weiteren Verlauf seines Lebens: Ist Becker erfolgreich, wird auch er erfolgreich sein.

Die folgenden vier "Zeitpunkte", zu denen Kleeberg den Leser wieder in das Leben von Charly "Karlmann" Renn blicken lässt, ordnen sich in ungefähren Jahresabständen aneinander: Oktober 1986, Februar 1987, November 1988 und September 1989. Man sieht die einzelnen Phasen der Beziehung zu seiner Frau, Annäherungen und Entfernungen. Hinzu kommen Beziehungen zu anderen Frauen, Affären, Freunde, eine wechselseitig ungeliebte und doch wieder benötigte Tätigkeit im Autohaus - es sind die alltäglichen Kleinigkeiten, die in einer ausgeklügelten und klaren Sprache vorgetragen und zu einem umfassenden Ganzen zusammengefügt werden. Und warum diese Kleinigkeiten bedeutsam sind, warum sie den Leser interessieren sollten, dafür liefert Kleeberg auf den ersten Seiten die Erklärung - ebenso wie für die Existenz seiner Hauptfigur: "Interferieren die Schwingungen einer persönlichen und einer überpersönlichen Erregung derart, bezieht man mit einem Mal alles auf sich und sich auf alles, glaubt, die Welt drehe sich um einen, und man selbst drehe sich zugleich um die Welt, sodaß man einen zugleich historischen und panoramatischen Blick auf sich und von sich bekommt. Der Fokus der Wahrnehmung verengt sich nicht auf den gegenwärtigen Augenblick, sondern weitet sich, alle Rezeptoren sind auf Empfang gestellt, und so wie ein Muschelstock, ins Meer gestellt, die treibenden Mollusken an sich zieht und bindet, bis er vollhängt von wahren Clustern von ihnen, zieht Charlys Bewußtsein die Raumzeit an sich und bindet sie in seine Wahrnehmung des besonderen Moments mit ein."

In der Beschreibung von Boris Beckers Turniertag - die zur Analogie von Charly Renns Lebens avanciert - wird Beckers Erfolgstag zum Symbol einer stilisierenden Selbsteinschätzung: "Wie ein Gott der griechischen Mythologie, den ersten morgendlichen Sonnenstrahlen treffen, der blinzelt und sich reckt und spürt, wie Kräfte in ihn fließen, der sich seiner Göttlichkeit bewußt wird im Erwachen und der im Aufstehen plötzlich feststellt, wie bei den Bewegungen seiner Arme, seiner Beine, seines Rückens die Bäume wachsen und ausschlagen, die Erdkruste sich wellt und aufbricht, er selbst ist die Welt, die sich zum Himmel hin erhebt."

Aber es ist nicht die Problematik dieser Denkfigur, die kritisch untersucht oder negiert und entlarvt wird. Dafür bringt der Autor zu viel Empathie für seine Protagonisten auf. Es ist die Stilisierung der Normalität, der Alltäglichkeit, die den ganzen Horizont der Personen einnimmt. Und sogar hier gewinnt Kleeberg eigentlich negativ konnotierten Eigenschaften positive Seiten ab. Der Begriff "oberflächig" wird in Bezug auf ein oberflächliches Leben gebraucht und gewinnt in Kleebergs Poetisierung des Begriffs den Leser für die "oberflächlichen" Personen: "Oberflächliche Menschen nennt man so, weil sie mehr Oberfläche als andere zur Aufnahme von verschiedenen Reisen besitzen. Die Aufnahmeintensität der einzelnen Rezeptoren ist dagegen abgestumpft, es sind reine Noppen, von denen lediglich ein matt aufglühender oder flackernder Schwachstromimpuls an die katalogisierende Behörde im Innern geleitet wird, die alles mit einem Achselzucken in einer einzigen großen Kartei archiviert."

Könnte man manchmal Ironie vermuten, bleibt diese immer im Interpretationshorizont des Lesers und findet nicht Einzug in den Text. Wertung und Analyse bleiben dem Leser überlassen. Kleeberg stellt die Personen des Romans niemals ins Abseits - selbst bei offensichtlich problematischen und moralisch zweifelhaften Verhaltensweisen. Und darin liegt die Stärke des Romans. Er bewertet nicht, sondern bleibt in einer emphatischen Distanz zu den Protagonisten und ihrem Verhalten.

Kleeberg schließt den Roman lakonisch. Am Ende der fast 500 Seiten beginnt die Fabel erneut, so wie im Juli 1985 mit dem Erfolg von Becker begonnen wurde. Charly und Christine haben sich getrennt, die Beziehung ist gescheitert. Charly wird gefragt, was er jetzt machen möchte und antwortet: "Du, wir fahren jetzt zurück, hauen uns in die Falle, morgen früh frühstücken wir nochmal schön mit Baguette und Croissants, und dann mache ich mich auf die Heimfahrt."

Die Frage nach seiner Lebensperspektive überhört er geflissentlich und gibt darauf keine Antwort - weil es darauf keine Antwort gibt. Es geht einfach nur "normal" weiter. Dinge wiederholen sich und formen sich ohne Umschweife zu einem Leben. Diese einfachen und gleichzeitig komplexen Alltäglichkeiten gelingen Kleeberg durchweg auf einem sprachlich ausgefeilten und dabei ausgesprochen hohen poetischen Niveau, das die Spannung bis auf die letzte Seite hält. Ein "Karlmann", der gut Philip Roths "Jedermann" (siehe literaturkritik.de 10/2006) an die Seite gestellt werden darf. So schreibt man sich in den Olymp.


Titelbild

Michael Kleeberg: Karlmann. Roman.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
480 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783421054593

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