Lob der Vorläufigkeit

Remigius Bunia findet in der Kombination von Narratologie und Systemtheorie einen neuen Ansatz zur Allgemeinen Literaturtheorie

Von Jens PriwitzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Priwitzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Poetik ist in der Moderne zu einer ausgestorbenen Gattung geworden. Seitdem die "Wörter das Laufen lernten", um eine Sentenz von Stefan Münker zu erweitern, fand sich kein zeitgenössischer Opitz oder Gottsched, um zu erklären, was denn nun die Literatur in Wahrheit sei. Vielleicht liegt dies darin begründet, dass Dichter und Literaturwissenschaftler gemeinsam davon überzeugt sind, dass es keine allumfassende Literaturtheorie mehr geben sollte. Vielleicht kann es sie auch gar nicht (mehr) geben, seitdem die Literatur wie alle Kunst die Regelverletzung zu ihrer fundamentalen Maxime gemacht hat. Doch bedeutet dies, dass man gar nichts mehr über Literatur sagen kann?

Anstatt angesichts dieses Befundes zu resignieren, versucht Remigius Bunia in seiner Dissertation eine Literaturtheorie zu entwerfen, die sich auf der gleichen Höhe mit ihrem paradoxalen Gegenstand befindet. Zur Charakterisierung von erzählender Literatur überhaupt und der mit ihr verbundenen Phänomene wie Fiktion, Diegese und Ende schlägt Remigius Bunia in seiner Studie den Begriff der "Faltung" vor. Ähnlich der Paradoxie vereint die Faltung zwei unterschiedliche Aspekte, die aus sich selbst heraus nicht aufgelöst werden können. Erst die Distanz zum Text, die zudem auch den Text erst als Einheit konstituiere, ermögliche es, sich dem, was ein Text tut, nämlich etwas darzustellen, zu nähern. In der Diskussion seiner zentralen Begriffe macht Bunia deutlich, dass derjenige, der sich mit der Fiktion beschäftigt, ebenso immer nichtfiktive Kontexte berücksichtigen muss. Auch eine Darstellung ist ohne ihren Modus undenkbar. Und das Ende einer Geschichte bildet keinen Abschlusspunkt, sondern ist eine Übergangszone, die erst durch die medialen Bedingungen des Buches hervorgebracht wird.

Gerade jener Begriff der Darstellung erweist sich als Klammer in Bunias Argumentation und zeigt die besondere Schwierigkeit auf, mit der und vielleicht auch gegen die der Autor argumentiert. Denn Bunia versucht, narratologische Begriffe wie "Fiktion" oder "Diegese" mit Beschreibungsmodellen aus der Systemtheorie zu kombinieren. Ihm schwebt eine neue Form der Grundlagenforschung über Literatur vor, die sich bewusst einem allgemeinen Thema jenseits der alltäglichen Interpretationspraxis stellt. Die so getaufte "Differenztheorie" begreift den Umgang mit Literatur als schon immer in Bewegung gefasst. Sie benennt Unterschiede, die sie zugleich als Identisches begreifen muss. Der Festlegung von Sinn steht im Text immer auch die Unverfügbarkeit von Sinn gegenüber, so dass die Aneignung eines Textes immer nur vorläufig und nie als beendet betrachtet werden kann. Die darauf aufbauende Interpretation wird bei Bunia zu einer rekursiven Operation, die selbst zum Ereignis werden und Spuren hinterlassen kann sowie nachfolgende Interpretationen beeinflusst.

Das Beharren auf der Vorläufigkeit aller Beschäftigung mit Literatur gehört zu den Stärken des Buches. Auf diese Weise kann Bunia auch die binären Codes der Systemtheorie durch Formen der Gradation ersetzen. Er zieht damit die Konsequenz aus den Beobachtungen zur Erzählliteratur und findet mit der "mise en abyme", der "diegetischen Metalepse" und der "Transzeption" Möglichkeiten, einem starren Schematismus in der Beschreibung von Literatur zu entkommen. Sein Vorschlag erweist sich allerdings in dem Moment selbst als diskussionsbedüftig, wenn der fragile Status in einer allumfassenden Theorie aufgehoben werden soll. Zwar weist die Studie Bezüge zur Erzählforschung und zur Systemtheorie auf, ihr Ideal ist doch die Mathematik. Schon die Anlehnung an den Begriff der "Faltung" hebt dies hervor. Wie dort soll hier eine Redeweise etabliert werden, die sich jenseits subjektiver Auffassungen über Literatur bewegt und zur allgemeinen Verständigungsbasis der Literaturwissenschaften, einer "Wissenschaft von der Literatur", wird. In der dadurch notwendigen Abstraktion drohen jedoch die literarischen Texte hinter der Theorie zu verschwinden und zum austauschbaren Spielmaterial zu werden.

Bunias Studie zeichnet sich durch seinen gelehrten Duktus aus, auch wenn dies nicht immer der Verständlichkeit der Argumentation dient. Leicht bewegt sich der Autor zwischen Samuel Beckett und Jorge LouisBorges, Miguel de Cervantes und Julio Cortázar, E.T.A. Hoffmann und Michel Houellebeq oder Herman Melville und Robert Musil. Aktuelle Forschungspositionen kann er spielend mit Schriften der antiken Rhetoriker kombinieren. Trotzdem wirkt dieser Überreichtum gelegentlich eklektizistisch zusammengesucht und in gestelztem Ton vorgetragen. Ähnliches gilt auch für die eher grobe Nachzeichnung von Begriffsgeschichten. Die historischen Wandlungen, Neuformulierungen und Rekursionen, denen die Begriffe unterliegen, kann Bunia auch nur im Vorübergehen darstellen. In solchen Textpassagen droht Bunias Anliegen nach einem eigenen Systementwurf aus dem Blick zu geraten. Verweise auf die einschlägigen Nachschlagewerke und Straffungen in den historischen Ausführungen hätten angesichts der ungemeinen Fabulierlust des Autors viel zu einer stringenteren Argumentation beigetragen.

Bunia liefert dennoch einen interessanten Entwurf einer Theorie von Erzählliteratur am Schnittpunkt von Narratologie und Systemtheorie. Mit seiner Neuformulierung des Darstellungsbegriffs kann der Autor Erhellendes zum Charakter von Literatur und zur Vorläufigkeit jeglicher Interpretation beitragen. Die Studie macht aber auch deutlich, dass die Suche nach einer systematischen Fundierung der Literaturwissenschaften eines hohen Maßes an Abstraktion bedarf und in ein Forschungsgebiet führt, für das traditionelle ästhetische Theorien nur bedingt tauglich sind. Ob dadurch jedoch Bunias Wunsch, eine größere "Nützlichkeit" der Literaturwissenschaften für die Gesellschaft herleiten zu können, erfüllbar wird, muss die weitere Diskussion zeigen.


Titelbild

Remigius Bunia (Hg.): Faltungen. Fiktion, Erzählen, Medien.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2007.
426 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503098095

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