Vom Hörsaal in die Psychatrie und ab in die freie Wirtschaft

Manfred Rumpls Faust-Roman über einen akademischen Dropout unterbietet die Fallhöhe des Stoffes

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Adaptationen des Faust-Stoffes herrscht kein Mangel. Es zeugt von Anspruch oder Tollkühnheit, die Geschichte zweier sich hassliebender Freunde (nebst zweier im Hintergrund bleibender Frauen) mit dem Namen Faust zu überschreiben. Manfred Rumpls neuer Faust ist ein Assistent am Philosophischen Seminar, dessen Stelle ausläuft und dessen Habilitation nicht vorankommt. Statt konzentrierter Denk- und Schreibarbeit laviert dieser Spät-Achtundsechziger zwischen Drogensumpf und Taxifahrer-Job hin und her. Faust als paradigmatisch neuzeitliche Inkarnation permanenter Grenzüberschreitungen wurde freilich schon im Jahr 1968 selbst als ein gegenwärtiger Sinnsucher vorgestellt, der mittels Drogen neue Erfahrungen sucht, der am Kapitalismus leidet und sich schließlich doch mit ihm arrangiert. Dieser '68er "Mini-Faust" des Comiczeichners Alfred Meysenbug nach einem Szenario von P. G. Hübsch war originell durch sein grafisches Mix-Medium aus Bild und Text und seine eingestreuten materialistischen Aphorismen von Epikur bis Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse.

Manfred Rumpls Faust ist in Österreich und in einem Roman angesiedelt. Der Protagonist wohnt mit seiner ihm entfremdeten Ehefrau Helena und der gleichfalls sich abwendenden Tochter Julia in Wien. Dort lebt auch sein Schulfreund Paulus, der wie Faust Philosoph ist - nur sehr viel erfolgreicher. Mit diesem nur leicht diabolischen Mephisto-Nachfolger geht der Protagonist als Moderator und Chauffeur auf eine Österreich-Tournee zur Vorstellung eines populärphilosophischen Buchs des Karrieristen. Während der akademische Aussteiger Faust sein Erkenntnisinteresse dem (vermeintlich) karriereschädlichen Thema der Beat-Literatur widmet, publiziert Paulus einen philosophischen Mischmasch zu den Schlagworten "Masse.Markt.Macht". Die Satire auf diesen eklektischen Pop-Philosophen ist recht flott geschrieben und fällt allemal unterhaltsamer aus als die ausführlichen Schilderungen des versumpfenden Protagonisten: "Ein Rezept für diesen Eintopf, der zum wiederholten Mal verdünnt, aufgewärmt und nun im Stile der Nouvelle Cuisine serviert wird, könnte etwa so lauten: Man nehme Schmalz aus der Romantik, brate ein paar Kantsche Kategorien darin an, nicht zu sehr aber, füge einige Messerspitzen vom Pulver der Alten hinzu, vergesse nicht, umzurühren, damit nichts anbrennt, gieße mit ein paar Gläsern Metaphysik auf, daß es schön dampft." So lustig eine solche Rezeptformel für einen postmodernen, weitläufig rezipierenden Erfolgsphilosophen auch klingt: ein klares Profil hat dieser Paulus nicht und mithin die Satire auf den Erfolgreichen auch keine rechte Adresse.

Psychologisch wird die Geschichte motiviert als Chiasmus zweier Entwicklungsgänge. Der schwächliche Streber Paulus wurde in Kindheit und Jugend vom erfolgreichen, schönen und starken Faust beschützt; durch den Ehrgeiz des Zukurzgekommenen und den Einsatz rhetorischer Kunstgriffe arbeitet sich Paulus als Erwachsener dann freilich an Faust vorbei. Am Schluss hat er die Professur, den öffentlichen Erfolg und gar Fausts Frau, die er seit langem schon anbetete. Die Titelfigur darf ihm als Handlanger dienen und muss sich während der Vortragstournee nicht nur Ratschläge für eine Therapie des eigenen verkorksten Lebens anhören, sondern eben auch den Seitenwechsel der Gattin.

Erzählt wird das ganze aus zwei Perspektiven. Ein auktorialer Erzähler berichtet von Fausts Niedergang, seinem Leben zwischen improvisierten Seminaren, fehlschlagenden Bemühungen um sein Werk, Taxidiensten und den Exzessen aus Kiffen, Saufen und Aufputschmittelkonsum. Dazwischen eingeschoben sind Aufzeichnungen in der ersten Person, die Faust (gewissermaßen in der Nachfolge von Italo Svevos genialem Erzählrahmen in "Zeno Cosini") auf Anraten seines Psychiaters in der geschlossenen Anstalt begann. Denn Faust landet am Ende der Tournee in der Klapsmühle, nachdem er Paulus in Graz (am Schauplatz der gemeinsamen Jugend) erst verbal auf dem Podium attackierte und ihn schließlich auch noch mit dem Auto überfuhr. Das Auto und die Metaphernwelt des Fahrens und Reisens bietet überhaupt das Leitmotiv dieser neuen Faust-Geschichte. Faust, der im Volksbuch und bei Goethe ein großer Welt-Reisender war, jobbt hier nun als Taxifahrer. Und sein Erzähler denkt auch in Bildern des Autoverkehrs. Wobei man sich fragen muss, ob der Faust der großen Menschheitsfragen hier weniger auf den Hund, sondern auf die Standspur flacher Alltagsmetaphern gekommen ist: "... Sich einreihen in den Stau auf der Autobahn der Existenz. Noch ist nicht alles kaputt. Da sind zwar Kratzer, Beulen und Schäden, die er sich als Geisterfahrer auf dieser Autobahn geholt hat, aber wenn er jetzt umdreht und in die Richtung fährt, in die alle brav fahren, dann muß es zu keinem Crash mit Totalschaden, Verletzten und Toten kommen."

Ähnlich halbgar, die Fallhöhe der großen Faust-Variationen von Christopher Marlowe über Goethe, von Nikolaus Lenau und Christian Dietrich Grabbe bis Paul Valéry und Hanns Eisler deutlich unterbietend sind auch viele der essayistischen Passagen über den akademischen Betrieb. So klagt Rumpls Faust über die Techno-Jugend von heute, die nicht mehr wisse, wie cool James Dean, Bob Dylan und Miles Davis waren. Langweilig, weil obligatorisch fürs zeitgenössische Erzählen von der Universität, ist auch seine Klage über die 'abgefuckt' hässlichen Institutsgebäude. Die philosophischen Ambitionen Fausts gehen auf ein gesellschaftskritisches Denken in der Nachfolge der Frankfurter Schule zurück. Seine Habilitation und seine schlampige (respektive genialische) Lehre scheinen auf die rechte Balance von Dekonstruktion und Konstruktion zu zielen. Eine Balance, die er freilich selten erreicht. Denn Werk und Leben zerfasern ihm. Irritierend ist freilich, dass der kurz vor dem Ausscheiden stehende Faust, dem die Habilitation nicht gelingt, gleichwohl eine Antrittsvorlesung im Beisein von Kollegen halten darf.

Und irritierend ist auch die Anspielung auf die österreichische Politik, die Fausts Dienst-Vertrag mit Paulus in Parallele zum Regierungseintritt des Rechtspopulisten Haider zu setzen scheint: "Meine Laufbahn als Lehrender war bereits so gut wie abgeschlossen, als ich dieses Angebot angenommen habe, im Herbst Neunundneunzig glaube ich, war das, dieser Vorschlag, für einen anderen den dienstbaren Geist zu machen, der zwar eifrig zuarbeitet, aber nicht einmal im Nachspann genannt wird. In gewisser Weise haben die neuen Verhältnisse im Land an mir vollzogen, was ich, das muß ich zugeben, selbst schon jahrelang vorbereitet habe." Diese Parallelisierung, die Rumpls Faust zwischen seinem Propaganda-Job für Paulus und den neuen, unappetitlichen Verhältnissen in der nationalen Politik insinuiert, ist mindestens so verquer und problematisch, wie einst Thomas Manns rätselhafte Parallelisierung der avantgardistischen Tonsetzers Adrian Leverkühn mit dem Aufstieg der Nazis. Aber weiter sollten wir die (sich beim Faust-Stoff in alle Richtungen aufdrängende) Parallelisierung des 1960 geborenen österreichischen Autors mit dem Lübecker Schriftsteller gewiss auch nicht ziehen. Denn Rumpl formuliert zwar nicht ungelenk und hat so manchen hübschen motivischen Einfall (etwa Paulus' beschlagene Schuhe und sein Humpeln mit dem verrenkten Knöchel als Teufelsattribute), doch die Eleganz der Mann'schen Prosa und die dichte Ökonomie seiner Motivketten sind doch von einem anderen Kaliber als Rumpls Roman. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Scheitern, Versumpfen und Zerfasern von Fausts Werk, Ehe und Leben sich der Erzählung seiner Biografie aufprägt - auf jeden Fall atmosphärisch und bei gelegentlichen Längen und Wiederholungen eben auch formal.

Freilich bleibt die (literarisch stets ergiebige) richtige Höllenfahrt am Ende aus. Nach dem Jahr in der Psychatrie und der Trennung von Helene beginnt Faust ein neues Leben mit der Philosophie-Kollegin Katharina. Die Schöne wird hier also ersetzt durch die Reine und Gute; Gretchen folgt auf Helena. Dagegen ist nichts einzuwenden. Allerdings ist Fausts Neuanfang als (wiederum die meiste Zeit im Auto zubringender) Vertreter für eine Firma, die Informations-CD-ROMs vertreibt, schon eine sehr prosaische Erlösung des hybrischen Grenzüberschreiters von seinen großen Projekten. Wie für einen trockenen Alkoholiker werden die Rockschallplatten und die Philosophiebücher für den Ex-Dozenten nun zu gefährlichen Versuchungen, denen er sich nur ganz langsam nähert, um seinen neuen Kaufmannsalltag nicht zu sprengen.

Das Schlusstableau des Romans klingt bedrohlich nach Kitsch, wenn der in der freien Wirtschaft angekommene Faust seine kleine Flucht von der zähen Dienstfahrt begeht. In einem Landgasthaus genehmigt er sich einen Drink und steigt in die meditative Einsamkeit eines sonnigen Hügels auf. Goethes Schlußssapotheose des himmelfahrenden, dem Teufel von trickreichen Engeln gestohlenen Faust funkelte da, gerade in ihrem sprachlichen Schwulst, merklich ironischer. Als tausendste Faust-Variante unterschätzt Rumpl die Fallhöhe seiner Leitfigur mithin deutlich. Die philosophischen oder existenziellen Herausforderungen dieser spätmodernen Reinkarnation des wissensdurstigen Teufelspaktlers sind ebenso verflacht wie die Konsequenzen und Schlussszenarien seiner literaturhistorischen Vorgänger hinuntertransponiert.

Als Gesellschaftsroman und Tableau philosophischer Milieus ist Rumpls Erzählung ebenfalls nur bedingt gelungen. Campus Novels von David Lodge und Malcolm Bradbury bis Dieter Schwanitz sind nicht nur unterhaltsamer inszeniert; sie treffen auch reale Probleme des akademischen Denkens und Lebenswandels pointierter als dieses philosophische Roadmovie durch Österreich.


Titelbild

Manfred Rumpl (Hg.): Fausts Fall.
Luftschacht Verlag, Wien 2007.
306 Seiten, 23,90 EUR.
ISBN-13: 9783902373236

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