Auf der Spur einer Suchfigur

Gabrielle Alioth hat einen etwas verwirrenden Roman über die Malerin Angelika Kauffmann geschrieben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihr Freund und Biograf G. G. de Rossi nannte sie die "Malerin der Grazien", die "Mutter der Künste und der Künstler", Johann Wolfgang Goethe ehrte sie als die erste Malerin des Jahrhunderts, Herder sprach von ihr als der "kultiviertesten Frau Europas". Wie Zeitzeugen berichteten, schien damals die ganze Welt "angelicamad" - verrückt nach ihren Werken. Wer war dieses "Weib von wirklich außergewöhnlichem Talent", wie Goethe mit etwas männlicher Arroganz sagte, denn Genie wollte er einer Frau nun doch nicht zubilligen?

Die Malerin und Radiererin Angelika Kauffmann wurde 1741 in Chur geboren, galt schon früh als "Wunderkind", das der Vater, ein Wandermaler, bald an seine Aufträge mit heranzog. Sie entschied sich gegen die Karriere als Sängerin und für die Malerei als Beruf, schlug aber die Laufbahn einer Hofkünstlerin aus - sie wollte unabhängig und freischaffend bleiben. Mit 21 Jahren wurde sie Mitglied der Akademie in Florenz, dann der Accademia di San Luca in Rom. Seit 1766 lebte sie in London, wo sie in die Royal Academy aufgenommen wurde. Nach ihrer Heirat mit dem ungleich älteren Vedutenmaler Antonio Zucchi kehrte sie über Venedig 1782 nach Rom zurück. Von Rom kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht wenige deutsche Künstler zu europäischem Ansehen und Wirksamkeit - so neben dem Maler Anton Raphael Mengs auch die Deutsch-Schweizerin Angelika Kauffmann, deren Werke den klassizistischen Grundton des späten Rokoko trafen. Ihr Haus wurde dort zum Treffpunkt für Künstler und Gelehrte; der Altertumsforscher Johann Joachim Winckelmann, Johann Gottfried Herder und Goethe gingen bei ihr ein und aus. Sie wurde durch ihre Porträts und Selbstporträts bekannt, aber sie wollte auch in der Historienmalerei, damals der höchsten Gattung, erfolgreich sein und offenbarte hier ein erstaunliches Gespür für Themen und Stoffe. Als sie 1807 starb, bereitete man ihr in Rom einen prunkvollen Leichenzug, "unter einem unermesslichen Zulaufe des Volkes", wie ihr erster Biograf Rossi schrieb.

Die in Basel gebürtige Schriftstellerin und Publizistin Gabrielle Allioth, seit mehr als zwei Jahrzehnten in Irland lebend, hat sich ausführlich mit dem außergewöhnlichen Lebensweg dieser Malerin beschäftigt, die als Pionierin und Identifikationsfigur für nachfolgende Künstlerinnen wirkte, und zu deren 200. Todestag einen Roman herausgebracht, der gleichermaßen Fiktives und Authentisches enthält und eine ganz eigene Sicht auf ihre berühmte "Landsfrau" einbringt. Aber eigentlich wird nicht dieser "Ausnahmekünstlerin" das Wort erteilt, tritt nicht sie als handelnde Mittelpunktsfigur inmitten einer dominanten Männerwelt in London und Rom auf, sondern es wird nur von Zeitgenossen über sie gesprochen und geurteilt. Ein ganzes Kaleidoskop unterschiedlicher Meinungen über sie - bösartige, gehässige, beleidigende, ironische, geringschätzige, bewundernde, liebevolle - wird zusammengetragen. Es sind eben Männer, die über eine ihnen geistig zumindest ebenbürtige, wenn nicht überlegene Frau urteilen -, ohne dass sich am Ende ein schlüssiges Gesamtbild ergibt.

Als Ich-Erzähler fungiert eine Nebenfigur, die nur an der Peripherie des Geschehens um Angelika Kauffmann steht, der mittelmäßige Hofmaler Franz Joseph Kauffmann, ein Verwandter der Künstlerin, der beim Kurfürst Friedrich Carl von Erthal, einem ambitionierten Kunstfreund, beschäftigt ist. Der Fürst hat sich mit seiner Regierung und seinem Hofstaat in Aschaffenburg niedergelassen. Seine Jugend hat Joseph Kauffmann mit seiner Cousine Angelika verbracht, als er von ihrem gestrengen Vater Johann Kauffmann in die Lehre genommen wurde. Zu dritt hatten sie die abgebrannte und wieder aufgebaute Kirche St. Martin in Schwarzenberg (Vorarlberg) ausgemalt. Dann aber haben sich ihre Wege getrennt, Angelika und ihr Vater sind weiter nach Parma, Bologna, Florenz und Rom gezogen, während Joseph in Mailand zurückblieb. Nun, im hohen Alter - wir schreiben das Jahr 1800 - wird Joseph von seiner Frau Marie gedrängt, die künstlerisch begabte Tochter Katharina bei der inzwischen berühmt gewordenen Cousine Angelika nach Rom in die Lehre zu geben. So begibt er sich auf die Reise nach Bregenz, um sich dort seine Geburtspapiere zu beschaffen, seine Herkunft zu klären und Erkundungen über Angelika, in die er sich damals verliebt hatte, anzustellen. Er wendet sich also nicht direkt an sie selbst, die sicher Katharina bei sich aufgenommen hätte, weil sie sich nach dem Tod ihres Mannes vereinsamt fühlte, sondern setzt ihr Bild, das einer erfolgreichen Künstlerin, aus Puzzleteilen, aus Zeugnissen ihrer Gönner und Freunde zusammen, die er direkt aufsucht, die ihm zufällig begegnen oder deren Aufzeichnungen ausgerechnet ihm - wie es der Zufall so will - in die Hände gespielt werden.

Das ist einmal der Bericht des damaligen Pfarrers von Schwarzenberg, der die junge Angelika nicht so sehr um ihres Könnens, sondern ihres starken Glaubens beneidete, dann die Erinnerungen eines gescheiterten Musikers, der Angelikas Zukunft als Sängerin beschworen hatte, sich aber durch ihre Entscheidung Malerin zu werden betrogen fühlt, die mokante Erzählung des Malers Heinrich Füßli über Glanz und schmähliches Ende von Angelikas England-Aufenthalt, ihres Förderers Joshua Reynolds, der sie zugleich als Konkurrentin fürchtet, ihres zeitweiligen Arztes und Verehrers John Morgan. Auch das Tagebuch des römischen Kunsthändlers Johann Friedrich Reiffenstein gerät Joseph in die Hände, in dem süffisant über ihre Zeit in Rom, ihre geheime Zuneigung zu Goethe und die Eifersüchteleien Herders berichtet wird. Nachdem sein Ziel, seine Herkunft amtlich beglaubigt zu erhalten, gescheitert ist, dringt Joseph bis nach Venedig vor, um vom Schwager Angelikas, Giuseppe Carlos Zucchi, letzte Aufklärungen über sich und Angelika zu erhalten: Er hatte längst geahnt, dass Angelikas Vater auch sein Vater und er ein Halbbruder Angelikas ist.

Diese ausgedehnten Berichte Dritter über Angelika Kauffmann werden nun nicht nur assoziativ aneinandergereiht, sondern ständig mit den Kommentaren und Erinnerungen Josephs versehen, also sozusagen der zweiten Erzählebene - die erste, die Angelikas, bleibt ausgespart - eine dritte hinzugefügt.

Wie der Titel - der prüfende Blick - schon andeutet, steht zwar Angelika Kauffmann im Mittelpunkt des Romangeschehens, jedoch beschreibt die Autorin es durch die Perspektiven verschiedener anderer Personen. Diese sind irgendwann mit ihr zusammengetroffen, haben sie einen bestimmten Lebensabschnitt begleitet, reagieren auf sie und geben dadurch über immer wieder andere Charakterzüge oder Begebenheiten in ihrem Leben Aufschluss. Erzählperspektive, Charakterpräsentation, Örtlichkeit, historische Zeit und Umstände sowie Handlungsgestaltung bedingen sich gegenseitig. An diesem Erzählverhalten hält der Erzähler konsequent fest, ohne dass es zu einem Wechsel der Erzählsituation kommt. Das führt so zu einer gewissen Monotonie im mehr vom Gedankenmonolog als von dynamischer Handlung geprägtem Erzählverhalten.

Man muss schon die Biografie Kauffmanns genauer kennen, um bei der Lektüre nicht die Übersicht zu verlieren, denn die Fülle der Namen und Begebenheiten, die sich um die anvisierte "Suchfigur" ranken, verwirrt im höchsten Maße. Es sind dies durchweg die Urteile von Männern, von mehr oder weniger um ihre weibliche Gunst buhlenden und von ihr zumeist abgewiesenen Männern, die ihr zwar Talent, aber - wie Goethe das ausdrückte - kein Genie zubilligten. Kauffmanns Werke galten den Zeitgenossen als Inbegriff "weiblicher Kunst" und die Künstlerin selbst als Inbild von Weiblichkeit. Und von der Kunst von Frauen erwartete man eben Graziöses, Anmutiges, Gefälliges oder Harmonisches, idealisierende Schönheit, so wurde auch dieser Künstlerin die Rolle der "schönen Seele" zugewiesen - ein Aspekt, der bei Gabrielle Alioth überhaupt nicht zur Sprache kommt. Denn weil sie eine Frau war, konnte Angelika im Zeitalter der Empfindsamkeit zur Leitfigur eines moralischen Künstlertums stilisiert werden, zumal sie von diesem Leitbild selbst durchdrungen war. Sie hat ja verschiedene Idealisierungstendenzen aufgegriffen, um die Interpretation ihrer Person und ihres künstlerischen Könnens auf höchst anspruchsvolle Weise zu lenken und mit scheinbar charmanter Leichtigkeit die Richtung dafür vorzugeben. Bereits der Titel ihres "Selbstbildnisses als Zeichnung inspiriert von der Muse der Poesie" (1782) gleicht einem Programm: Der Austausch der beiden Freundinnen, der Musen Malerei und Poesie, ist hier als Metapher der sich selbst inspirierenden Künstlerin und ihrer künstlerischen Autonomie zu lesen. Das Eigene als Verdoppelung des Ichs. Im "Selbstbildnis als Imitatio" (1771) ist sie Malerin und inspirierende Muse in einem. Gerade in ihren allegorischen Selbstporträts greift Kauffmann den - männlichen - Topos des Malers mit seinem Modell auf. Die Muse wird als eine göttliche Vision verstanden, die Künstlerin zugleich zur göttlichen Gestalt erhoben. Wie ein Kristall habe sich seine Cousine in den Erinnerungen von Füßli, Morgan, dem Sänger, dem blinden Pfarrer vor seinen Augen gedreht, sinniert Joseph, der Ich-Erzähler, und immer wieder das Bild des Betrachters zurückgeworfen.

Andererseits - so macht die Autorin deutlich - hatte Angelika gelernt, ihren Blick demütig zu verschleiern, den Kopf gefällig zu senken, wenn sie mit hochgestellten Persönlichkeiten zusammentraf. "In ein Gespinst von Gefälligkeiten gehüllt, hat sich Angelica jedem gezeigt, wie er sie sehen wollte, auch mir [gemeint ist Joseph] damals in Como [...] mit ihrem Versprechen, mich nie zu vergessen. Ich kann mir nicht vorstellen, wer sie heute ist, auch nicht mehr, wer sie damals war". Genau dieses Wechselspiel zwischen Kunst und Leben bieten ihre Attitüdenporträts, Huldigungsbilder auf die Kreativität von Frauen, in den Topos der Künstlerin als Muse gekleidet. Die Bildnisse der berühmten Attitüdenkünstlerin Emma Hamilton, der Fortunata Fantastici oder der Teresa Bandettini sind "Lebende Bilder", bühnenhafte Inszenierungen, in denen die Dargestellten Posen vorspielen, die als Posen auch erkennbar sein sollen. Mit anderen Worten: Die Künstlerinnen feiern sich selbst. Mit jedem neuen Porträt einer ihrer Künstlerfreundinnen, wie der Stegreifvirtuosin Fantastici als Terpsichore, der Muse der chorischen Lyrik, der Sängerin Sarah Harrop als Erato, der Muse der Hymne, des Liebesliedes und Tanzes, oder der Lady Hamilton als Thalia, der Muse der Komödie, und der Cornelia Knight als Kalliope, der Muse des heroischen Gesangs und des Epos, vervollständigte sich ihr Reigen der neun Musen des Parnass. Und der Kardinal de Bernis sollte dann Kauffmann selbst als "die zehnte Muse Roms" bezeichnen.

Ihr wichtiges "Selbstbildnis am Scheideweg zwischen Musik und Malerei" (1792), die Malerin zwischen ihren beiden Talenten, Musik und Malerei, gestellt, gibt eine kühne Formulierung ihrer eigenen Lebensgeschichte. Der traditionellen ikonografischen Darstellung des Herkules am Scheideweg zwischen Tugend und Laster folgend, nimmt sie selbst die Stelle des Herkules im Bild ein, beansprucht damit das Inbild potenter Männlichkeit für sich und demonstriert Stärke in der Wahl des richtigen Weges.

Wenn Angelika Kauffmann malte, dann brauchte sie ihn, den prüfenden Blick. "Sie musste das Gesicht des Gegenüber studieren, sehen, was seine Züge offenbarten, was sie verbargen". Nicht nur der europäische Hochadel stellte sich bei ihr mit Porträtaufträgen ein, sondern sie hat auch zu bedeutenden Malern, Dichtern und Literaten eine Herzensfreundschaft fast kultisch zelebriert und dies in einer ganzen Freundschaftsgalerie festgehalten. Hier sollte vor allem das Gesicht als Spiegel der Seele sprechen, und so zeigen die Freundschaftsbildnisse nichts als den privaten Menschen. Damit erwies sich die Künstlerin als eine typische Vertreterin des aufklärerischen Gedankenguts. Und es ist durchaus etwas dran an Alioths Feststellung, dass Angelika sich durch ihre Bilder mit den von ihr geliebten Menschen verband - dem Sänger von Tettnang, dem Gelehrten Winckelmann und Goethe, der in Rom nur der "Baron" heißt, weil er sein Inkognito wahren wollte.

Die "schöne Seele" war der Liebling des Weimarer Kreises. Sie übereignete Goethe sein Porträt (1787) als Freundschaftsgabe, ein wertherisches Jünglingsporträt - während Goethe mehr die Überhöhung wollte, die ihm dann Johann Heinrich Tischbein mit seinem monumentalen Gemälde "Goethe in der Campagna" (1787) anbot. Diesem Inbegriff eines empfindsamen Porträts stellte sie als Pendant dann das ebenfalls verjüngte Porträt Herders (1791) entgegen.

Mögen uns heute auch die Themen ihrer Historienmalerei sehr fern sein, so sind doch die ihnen zugrunde liegenden menschlichen Grundkonstellationen erregend aktuell geblieben. In "Hektors Abschied von Andromache" (1768) kommt es Kauffmann auf die emotionale Zwiesprache der sich liebenden Eheleute an, auf den Moment des Innehaltens zwischen Bleiben und Abschiednehmen. Das Thema der verlassenen Ariadne und das der um Odysseus' Rückkehr besorgten Penelope, zwei Idealbilder treuliebender Frauen, haben sie zeitlebens beschäftigt. Frauen - so vermag Gabrielle Alioth in ihren knappen, aber treffenden Bilddeutungen nachzuweisen - räumte Kauffmann eine tragende Rolle ein, Eleanora oder Elizabeth Grey, die römischen oder griechischen Heldinnen wie "Cornelia, Mutter der Gracchen" (1785), die Figuren der ohnmächtigen Julia und Oktavia oder Alkeste ("Der Tod der Alkeste", 1790) sind für sie die Bewahrerinnen der Menschlichkeit.

Was das Genie Angelikas mit der Mittelmäßigkeit Josephs, des erzählenden Ich, verbindet, das ist für die Verfasserin die Leidenschaft des Malens, sie ist wie eine Krankheit, verzehrend, unheilbar. "Aber das Malen ist nicht Teil unseres Lebens", resümiert Joseph, "es ist das, was wir sind, was Angelica ist, und alles, was das Leben uns bringt, wird Teil des Gemalten". Er wird nicht beweisen können, dass er, dass seine Kinder Anspruch auf das Erbe der Kauffmanns haben. Denn eine Heirat seiner Eltern hat nie stattgefunden. "Das Vermögen, das ich meinen Kindern hinterlassen kann, ist die Freiheit, ihre eigenen Fehler zu machen, neben dem Glück auch ihr Unglück selbst zu wählen", heißt es gegen Ende des Romans. "Den Vorhang zu und alle Fragen offen", könnte man mit Brecht sagen. Das Suchbild Angelika Kauffmann bleibt gespalten in Brüchen, Widersprüchen, Rätseln. Aber auch die Geschichte Josephs ist dem Leser nicht gerade näher gekommen.


Titelbild

Gabrielle Alioth: Der prüfende Blick. Roman über Angelica Kauffmann.
Nagel & Kimche Verlag, Zürich 2007.
240 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-13: 9783312003839

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch