Wunderbare Nicht-Erzählerin

Lebenssplitter, Jetztfragmente: In ihrer Porträtsammlung "Dies und das und das" erzählt Nadja Einzmann 31 grandios luzide Nicht-Geschichten

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im September 2001 veröffentlichte die Collection S. Fischer - das ist die ambitionierte, schick gestaltete Entdecker-Edition des Fischer-Verlags - ein dünnes Konvolut: "Da kann ich nicht nein sagen - Geschichten von der Liebe" bündelte 36 Kurz- und Kürzestgeschichten, verfasst von der jungen, schick zickzackgescheitelten badischen Debütantin Nadja Einzmann. Auf gerade einmal 112 Seiten versammelte das Buch alle Symptome einer literarischen Mode, die mit Judith Hermanns "Sommerhaus, später" 1998 - ebenfalls in der Collection S. Fischer - ihren Anfang genommen hatte: der Verlag tupfte aus ein paar [wenigen!] karg-präzisen Sehnsuchtstexten der jungen Autorin hastig das Fischer-Fräuleinwunderbuch des Jahres 2001. Direkt zwischen den Debüts von Maike Wetzel (der öde Erzählungsband "Hochzeiten", Collection S. Fischer 2000) und Ricarda Junge (der spröde Erzählungsband "Silberfaden", Collection S. Fischer 2002).

"Geschichten von der Liebe" also, wechselnde romantische Konstellationen, erzählt in hammerschönen Mädchenprosasätzen; interessant psychologisierte Männer-"Du"s und Frauen-"Ich"s, die sich begehrten, belauerten, umtanzten. "Vordergründig geht es um Liebe, in Wahrheit jedoch um Macht, was ohnehin dasselbe ist... Ganz und gar wunderbar", zitierte der Umschlag die "Frankfurter Rundschau". Und lieferte damit den bestmöglichen Lektüreschlüssel zu Einzmanns Miniaturen: Ein Buch über subtilste Verletzungen, hintergründige "Wer liegt oben?"-Spielchen, immer nur zweidrei Seiten pro Geschichte, immer nur zweidrei kurze, plastische Szenen. Und schon wieder weiter: "Dafür liebt er mich. Dass ich so scharf umrissen bin, und man sieht die Sehnen unter meiner Haut. Dass er seinen Schwanz in mich schieben kann, und er spürt ihn bis zuletzt, verliert ihn nicht zwischen all dem weißen Fleisch, und sein Samen ist nur für uns beide da und fließt nicht ins Meer. So hat er es sich gedacht. Aber ich bin nicht auf seiner Seite."

Trotzdem, nötig wäre dieses Debüt kaum gewesen: Zu viele Fülltexte, zu viele Ramschtexte, flüchtig geschriebenes Nebenbei, "packt eure Herzen in Alufolie, dass sie geschützt sind, wenn ihr aus dem Haus geht!". Einzmanns Buch liest sich, als hätte sie den Inhalt ihrer Schreibkladden hastig zum dürren Manuskript zusammenkratzen müssen, während im Türrahmen der Collection-S.-Fischer-Lektor stand, mit entsicherter Pistole: "Hopphopp, wir müssen das jetzt auf den Markt werfen, noch bevor das Phänomen 'Fräuleinwunder' wieder passé ist!"

Erst fünf Jahre später: Das Zweitbuch. Doch auch dieses"Dies und das und das" (schon dieser waschlappige Titel!) erscheint wie das Paradebeispiel der unschönen Allianz "übereifriger Verlag - maulfauler Autor". Einzmann versammelt 31 kurze Porträts, immer nur dreivier Seiten pro Figur, immer nur dreivier kurze, plastische Lebensmomente, und schon wieder weiter. Die Porträtierten heißen Bernd, Tanja oder Ansgar, haben Allerweltskarrieren, Allerweltsschicksale. Gebildete urbane Mittzwanziger, Mittdreißiger. Mittelstandskindheit, Mittelstandsambitionen. Keine großen Geschichten. Kein großes Buch.

"Als sein Vater stirbt, ist er vier. Wie sie ihren Kindern das beibringen soll, fragt die Mutter einen Psychologen. Erst erzählen, wenn die Kinder von sich aus nachfragen, sonst nicht. Wann besuchen wir wieder einmal den Papa im Krankenhaus?, fragt er irgendwann also. Der ist tot, sagt die Mutter, wie nebenbei. Von da ab hält er es für möglich, dass alle jederzeit tot sein könnten, die Großeltern, die Onkel und Tanten zum Beispiel, wenn er sie lange nicht gesehen hat."

Ein Musikwissenschaftler, der dem Nestbautrieb seiner Frau nachgibt und deshalb endlich, endlich promovieren und Geld verdienen muss. Eine junge Lehrerin mit Figurproblemen, die am Wochenende schnellen Sex sucht, gegen die Langeweile. Ein Revisor, der sich zusammenreißen muss, um nicht ständig das Zeitmanagement seiner Frau zu bekritteln. Einzmann interessiert sich für die kleinen, hässlichen Szenen der Kindheit, die hinüber ins Erwachsenenleben suppen. Und die kleinen, verqueren Lügen, mit denen sich Menschen durch ihre Tage retten. Es geht um Liebe, Macht und Sehnsucht und Distanz, um Menschen, die ihr Leben mustern wie einen Schuh, sich unaufgeregt und ein wenig melancholisch fragen: Passt das? Gefällt das? Kann man das noch umtauschen?

"So sehr er sie auch liebt seine Frau, sie bemitleidet, ihr vieles verzeiht. Ihre Unordnung, dass sie einfach keine Ordnung zu halten in der Lage ist, das muss er ihr doch immer wieder nachtragen. Es ist auch schon vorgekommen, dass er ausfällig geworden ist, sogar das, leider. Da tritt sie zum Beispiel hinein in die Wohnung und wirft ihre Jacke ab oder ihre Tasche, wo sie gerade steht und herumgeht. Und da bleiben sie dann natürlich liegen, die Jacke, die Tasche, schreien zu ihm auf, flehen ihn an, dass er ab diesem Moment nichts anderes mehr denken kann. Sie haben doch alle ihren Ort, dort wollen sie hingelegt, hingehängt sein, alle Dinge. Er weiß wirklich nicht, wie seine Frau das aushält, diese schreienden Gegenstände überall in der Wohnung, diese Unbehaustheit überall."

Nadja Einzmann pointiert kaum. Ihre Porträts sind - wie schon die Prosa - skizzenhaft und undramatisch, hin und wieder gibt es Glitzerstellen, Schreckmomente, aber keine Sozialkritik, kein "Generationen"-Gerede. Zusammengenommen ergeben die Texte kein Panorama, schon gar kein gesellschaftlich-politisches. Keine Querverweise zwischen den Porträts, keine Links oder Metamomente, alles ist fest umschlossen und solitär. Und das ist kein Lektoratsfehler; kein editorischer Motivationsmangel. Sondern das Einzigartige, das Still-Spektakuläre an diesen superschönen, kargen, disparaten Skizzen.

"So kam damals ein Zusammengehörigkeitsgefühl zustande zwischen ihnen, dass sie sich beide für den Holocaust interessierten, sich von den Lehrern empfehlen ließen, was da zu lesen war, lasen. Und auf dem Schulhof dann Gespräche darüber, bis hin zur Entscheidung, gemeinsam nach Auschwitz zu fahren, eine geführte Fahrt, eine Reisegruppe, alles Frauen um die fünfzig, sechzig, die mit ihnen fuhren. Eine Schreckensexkursion, so erinnert sie das. Er gibt früher auf als sie, fährt alleine zurück. Sie fährt einen Tag später regulär mit der Reisegruppe, weinend, an den Busen einer Frau geschmiegt. Danach keine Gespräche mehr über den Holocaust, kaum, dass sie sich grüßten."

Man hätte daraus auch eine effektreiche Mädchenerzählung kleistern können, der Junge wäre dann "Beck" oder "Tomislav" gewesen, sein Gegenüber "Clio" oder "Swantje", eine lakonische Ich-Erzählerin, fünfzehn- bis zwanzigtausend Zeichen und ein schlichter Titel, "Flutlicht", "Schwellen", "Folie à deux", etwas in dieser Richtung. Aber - wie spannend, wie schön! - wir sind hier nicht bei Maike Wetzel!

Um eine Lanze für's Populäre zu brechen, erklärte Diedrich Diederichsen 1985 in seinem Pop-Manifest "Sexbeat", wie "lebendig und facettenreich" moderne Erzählwelten funktionieren: "Allein die Welt des Heavy Metal oder des modernen Horrorfilms sind bizarre Zauberreiche voller kleiner und kleinster Bezüge, voller komplizierter Referenzen." Diedrichsen sagt, der intellektuelle Kritiker schaut auf solche Erzählungen und vergisst, dass sich - zum Beispiel bei "Perry Rhodan" oder den Marvel-Comics - "jedes Einzelexemplar in eine unendliche Reihe einordnet mit den ausgetüfteltsten Querverbindungen, die für das Lesen viel wichtiger sind als die rechtsreaktionären Inhalte." Die Bedeutung solcher "proletarischer Kulte", schreibt Diederichsen, "erschließt sich nicht über die Beziehung Perry Rhodans zur Wirklichkeit, sondern über das Verhältnis eines Perry-Rhodan-Heftes zu allen anderen Perry-Rhodan-Heften."

Nadja Einzmanns Arbeiten sind die konsequenteste und befreiendste Umkehrung dieses alles-ist-mit-allem-verknüpft-Erzählprinzips. Nichts hängt zusammen. Alles wirkt für sich allein. Und damit steht Einzmann heute - das ist ein kleiner, wohltuender Schock! - recht singulär im poetologischen Raum: Bei ihr gibt es kein "meisterliches Verknüpfen", kein "kunstvolles Verweben", kein "episches Gesamtkunstwerk", Tanja hat kein Kind mit Ansgar, Bernd hat es nicht auf dessen Schwester abgesehen, jeder bleibt - wie befreiend, wie luzid! - einfach mal für sich.

Diese kurzen, kargen Bücher zu lesen, das ist wie Zugfahren, ohne sich ständig um Anschlussverbindungen sorgen zu müssen. Wie einen einzelnen Stein in der Hand zu wiegen, ohne sofort - "Passt das zusammen?" - tausend Überlegungen zur Statik mitzuschleppen. Hier darf man Sätze auf sich wirken lassen, denen es ganz egal ist, was auf der Seite vorher stand, und worum es im nächsten Kapitel geht. Nadja Einzmann erzählt keine großen Geschichten, schreibt keine großen Bücher. Aber sie ist eine große, ganz wunderbare Nicht-Erzählerin!


Titelbild

Nadja Einzmann: Dies und das und das. Porträts.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
170 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783100170149

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