Leben in der Permanenzphase oder Amerika in drei Tagen.
In Richard Fords neuem Roman "Die Lage des Landes" sucht sein alternder Held Frank Bascombe nach Antworten auf die richtig großen Fragen
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWahrscheinlich würden wir Frank Bascombe, wenn wir ihm im wahren Leben begegneten, nicht sonderlich mögen. Vielleicht würden wir ihn auch einfach übersehen - und das nicht nur, weil er Immobilienmakler ist. Denn Frank Bascombe ist ein schrecklich durchschnittlicher Amerikaner. Mit seiner Exfrau, Ann Dykstra, mittlerweile schon eine "gut versorgte Witwe", hat er zwei Kinder und immer noch anständigen Kontakt. Nun lebt er mit seiner zweiten Frau Sally Caldwell im beschaulichen Sea-Clift an der amerikanischen Ostküste. Im 1986 erschienen, gleichnamigen Roman war er Sportreporter, lebte mit Ann in Haddam nahe New Jersey und gab sich vor nun schon zwölf Jahren - auch wenn das mit der Chronologie in den Romanen nicht ganz aufgeht - in "Unabhängigkeitstag" (1995) dem Immobiliengeschäft hin, mit dem er es zu einem beträchtlichen Reichtum gebracht hat.
Als wäre das alles nicht Mittelmaß genug, begleiten wir Frank Bascombe knapp 700 Seiten lang wieder in bewährter Tradition auch noch ausgerechnet für drei Tage vor und an Thanksgiving, jenem Donnerstag-Feiertag, an dem sich Familien und vor allem solche, die sich noch dafür halten, nicht selten auch den Freitag frei nehmen und sich für ein langes, harmonisches Wochenende rüsten, das statt trautem Zusammensein die tiefen Gräben nur noch unüberwindbarer erscheinen lässt. Am Ende ist dann immer nur der freilaufende Bio-Truthahn - zumindest vor seiner Schlachtung - glücklich gewesen. Aber Frank Bascombe ist eine literarische Figur, in der sich zwar typische Merkmale des amerikanischen Durchschnittbürgers verdichten, den wir als Leser durch die im Präsens gehaltene Ich-Erzählung aber auch aus einer Innenperspektive kennenlernen, die sowohl seiner Außenwelt als auch seiner Familie weitgehend verborgen bleibt. Und gerade das, so paradox es klingen mag, macht ihn um so mehr zum Prototyp des amerikanischen self-made-man. Dieses Charakterprofil verbindet Bascombe denn auch mehr mit Harry Angstrong aus John Updikes "Rabbit-Tetralogie" als mit dem doch intellektuelleren Nathan Zuckermann, der als Alter Ego von Philip Roth in vielen seiner Romane auftaucht. Eines aber haben die drei Kunstfiguren, mit denen die Autoren Roth, Updike und Ford nun schon seit einigen Jahrzehnten amerikanische Geschichte und Gegenwart begleiten und vermessen, doch gemeinsam: schon heute ist ihnen ein bleibender Platz nicht nur in der amerikanischen Literaturgeschichte, sondern auch in der Weltliteratur sicher.
Wie schon die anderen beiden Bascombe-Romane, so ist auch "Die Lage des Landes" nicht zuletzt durch die Unmittelbarkeit suggerierende präsentische Erzählhaltung zu einem sprachgewaltigen, themen- und detailreichen Tableau des amerikanischen Alltagslebens geworden, das mit fast schon an Versessenheit grenzender realistischer Genauigkeit sowohl die Schickeria der Ostküste, die heruntergekommenen Bars in Haddam in der Nähe von New Jersey samt seiner im "glücklichen Zuhause-als-Zuflucht-Stil" gebauten Häuser oder eine der großen Routen ins Landesinnere schlaglichtartig einfängt und fast vergessen lässt, dass es sich bei Haddam und Sea-Clift um erfundene Orte handelt, die gleichwohl in ihrer Lokalisierung ebenso typisch für real existierende amerikanische Städte stehen, wie Frank Bascombe für den Durchschnitts-Amerikaner.
Die richtig großen Fragen des Lebens, so äußert sich Frank einmal gegenüber seiner Tochter, seien folgende - und trifft damit genau das Selbstverständnis einer amerikanischen Mittelschicht, die sich zwischen Bildungsbeflissenheit und praktischer Alltagsbewältigung in der Gesellschaft behaupten will: "Schaffe ich es, dass meine Schuhe beim Schuster sind, bevor ein Monat um ist und sie in der Altkleidersammlung landen? Wie geht meine PIN-Nummer? Wie heißen die grossen Muscheln? Welcher von den Everly Brothers ist Don? Habe ich Im Zeichen des Bösen tatsächlich gesehen oder nur davon geträumt?"
Dass es allerdings wichtiger ist, sich bestimmte Fragen einfach einmal gestellt zu haben, als eine Antwort auf sie zu haben, wird Frank freilich in einem ganz anderen Kontext, gleich am Anfang des Romans schmerzlich bewusst, als er in der "Asbury Press" vom Mord eines frustrierten Pflegers an seiner Dozentin Sandra McCurdy liest. Auf die Frage, ob sie bereit sei, ihrem Schöpfer zu begegnen, habe die Professorin mit der Pistole an der Schläfe geantwortet: "Ja. Ja, ich glaube, ja."
Am Ende des Jahres 1999 - also noch vor dem Trauma des 9. September und auch noch vor dem endgültigen Ergebnis der Präsidentenwahl, aus der George W. Bush trotz der Umstände so merkwürdig stark als Sieger hervorgegangen ist - ist Bascombe in einer ähnlichen Lage, wenngleich sich der Gedanke an den Tod nicht in Form einer Pistole in sein Bewusstsein eingräbt, sondern in diesem Fall die Diagnose Prostatakrebs ihn "wie ein Auftragsmörder" verfolgt. Als ihn dann auch noch seine zweite Frau verlässt und zu ihrem ersten Mann zurückgeht, brechen bis auf den Tod die letzten Gewissheiten seines Weltbildes und Lebensentwurfes für ihn weg. Obwohl er nicht müde wird, immer wieder aufs neue über seine Lebensphase nachzudenken.
Freilich erfahren nur wir als Leser von diesen Überlegungen eines Mannes in der "Permanenzphase", die nach seiner Wendung vom Sportreporter zum Immobilienmakler nun seine Verwandlung zum Makler des eigenen Lebens markieren, den vor allem interessiert, ob er seine "Botschaft richtig rübergebracht hatte". Denn mit Mitte Fünfzig kann man die Ernte der Arbeit und des Geldes einfahren - nicht zufällig spielt der Roman an Thanksgiving, also dem Erntedankfest - und den Vorteil genießen, "dass man gar nicht mehr alles komplett vermasseln kann, weil so viel vom eigenen Leben schon dokumentiert ist": "Wir sind, was wir sind - geschieden, verwitwet, verlassen, Eltern von zwei erwachsenen und einem toten Kind, die noch soundso viel Lebenszeit übrig haben. Es gehört zu den Facetten des schimmernden Juwels, das ich die Permanenzphase des Lebens nenne, möglichst das zu sein, was wir jetzt sind - ob gut oder weniger gut -, genau das, damit es später, bei der Abschlussbilanz, nicht so ein Schock wird."
Mit der Krebsdiagnose ist diese Abschlussbilanz für Frank Bascombe in bedrückende Nähe gerückt - und so wie er Immobilien begutachtet hat und begutachtet, nimmt er nun die Schätzung seines eigenen Lebens in Angriff, dessen 'Wert' sich wohl am besten im Zusammenhang mit einem so neuralgischen Datum wie dem Thanksgivingfest ermessen lässt, denn, das wissen wir nicht erst seit Fords 'Feiertags-Trilogie', grosse Feste - Familienfeste zumal - ziehen immer auch grosse Tragödien an und zeigen wie unter einem Brennglas den Zustand einer Familie. Mitnichten nämlich teilen die Menschen seiner Umgebung seine Ansichten von der "Permanenzphase" des Lebens, sondern sperren sich vielmehr, wie Sally, dagegen.
Und gerade darin liegt das Hauptproblem von Frank Bascombe: gerade weil er jenen Lebensabschnitt genau so und nicht anders versteht und verstehen will, ist es ihm auch kaum möglich, neue Freunde zu finden, was wiederum daran liegt, "dass die Vergangenheit so vollgestopft ist mit gelebtem Leben, und deshalb bedeutet Sich-Anfreunden, wie man es mit fünfundzwanzig konnte, für jeden Menschen in seinem dritten Viertel dermaßen viel Hinauswringen und langweiliges Updaten mit sich, dass es einfach die Mühe nicht lohnt".
Dass wir Frank gerade in seiner "Permanenzphase" permanent auf den grossen Routen in Bewegung und von einem Ort zum anderen irrlichternd erleben ist neben dem Spiel mit der Tradition des Roadmovies einer von vielen Kunstgriffen des Autors, der es meisterhaft versteht, ein auf den ersten Blick völlig realistisches Erzählkonzept mit großangelegten Kompositionsprinzipien, die immer einen doppelten Boden freilegen, zu überblenden. Ob bei der Darstellung eines provinziellen Mikrokosmos, der wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte eines Freundes oder seines aus Indien eingewanderten Geschäftspartners Mike Mahoney, auf dessen republikanischen Wertehorizont zumindest in der Praxis - er verlässt seine Frau für eine Jüngere - auch kein Verlass mehr ist ("Wer weiß schon, wie oder wann oder durch welche subtilen Mechanismen alte Werte durch neue ersetzt werden. Es passiert einfach") - stets hat Ford nicht nur den Einzelfall im Blick, sondern lenkt die Aufmerksamkeit seines Ich-Erzählers immer auch auf übergeordnete Zusammenhänge der amerikanischen Gesellschaft und Politik.
Nicht zuletzt der Titel verleitet zu der Überlegung, dass dieser Roman nicht nur als Dokument eines von privaten Sorgen geplagten Antihelden gelesen werden soll, sondern dass sich in der Lebenslage des Frank Bascombe - krank aber reich, nach außen hin selbstbewusst, aber im Innern von Ängsten zerfressen - exemplarisch auch die Lage des Landes vor jenem 9. September 2001 widerspiegelt, nach dem jenes hier beschriebene Amerika auch schon der Vergangenheit angehört. Ob es bei der Trilogie mit Frank Bascombe bleibt, weiß nur Richard Ford. Allerdings stünde ihm nach Ostern ("Der Sportreporter") und dem amerikanischen "Unabhängigkeitstag" für einen vierten Band noch ein Fest zur Verfügung, auf das wir Deutschen besonders gut und gerne warten, nämlich Weihnachten - und zwar ganz gleich mit welchem Frank Bascombe wir es dann zu tun haben werden.
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