"Der Tod ist ein Schatten, der mich nie verlassen hat"

Die kroatische Autorin Slawenka Drakulic hat einen eigenwilligen Roman über Frida Kahlo geschrieben

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach ihrem Todesjahr 1954 in Vergessenheit geraten, wurde Frida Kahlo 1981 durch Retrospektiven in Berlin und London wiederentdeckt und durch ihr autobiografisches Werk zur Kultfigur stilisiert. Bereits 1977 hatte ihr die mexikanische Regierung in Mexiko City eine Retrospektive ausgerichtet, in der riesige Vergrößerungen von Fotos aus ihrem Leben aufgehängt waren, neben denen die Gemälde "fast nur noch wie die Interpunktionszeichen in einem Text wirkten", schrieb ihr Biograf Hayden Herrera. Kahlos Malerei wurde gerade durch die besonderen Lebensumstände einzigartig und in tiefem Sinne Inbegriff des Weiblichen. Ihr Thema sind ikonografisch abgewandelte Selbstporträts, die sie durch Geschichten und dramatische Situationen erweiterte. Damit war auch eine besonders günstige Konstellation für Biografien und literarische Porträts über sie gegeben.

Die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic hat zum 100. Geburtstag der "mexikanischen Ophelia" einen Frida-Kahlo-Roman vorgelegt, der im Original treffender "Frida oder über den Schmerz" heißt. Die Autorin hat die vielen Biografien über Kahlo zur Kenntnis genommen, auch das Kino-Breitwand-Opus mit Salma Hayek aus dem Jahre 2002, das den Mythos mehr bediente statt ihn zu ergründen, und das Anliegen ihres eigenen Kahlo-Porträts schließlich so formuliert: "Mir schien, dass etwas fehlte, nämlich ihre Perspektive, die Beziehung zwischen dem Schmerz, der Krankheit und ihrer Kunst".

Drakulics Buch beschwört wichtige Momente aus dem Leben dieser ungewöhnlichen Frau. Viele der besonderen Eigenschaften, die ihre Malerei wie ihr Leben auszeichneten, treten hervor: ihre Tapferkeit und ihre Verzweiflung, der hohe Wert, dem sie allem Überraschenden und Intim-Persönlichen beimaß, ihre Vorliebe für schauspielhafte Auftritte, die Selbstinszenierung als Schutzmaske, um ihre Privatsphäre und persönliche Würde zu wahren. Eine Frau, die sich, wenn sie auch noch so sehr vom Tode bedroht war, immer wieder ihrem Schicksal entgegenstellte. Ihr wichtigster Darstellungsgegenstand war stets ihre eigene Person. So hat sie selbst viel zur Legende beigetragen, in der sie bis heute fortlebt. Und diese Legende will Drakulic auch gar nicht zerstören. Vielmehr möchte sie dahinter die seelische und körperliche Schmerzen erleidende und zugleich aufbegehrende, die ohnmächtige und zugleich alle weibliche Raffinessen einsetzende Frau zeigen, die sich ihrem Schicksal widersetzt und zuletzt doch ergeben muss.

Dem "Ausgangsmaterial" dieser Bilder spürt also die Autorin nach. So wie die Kahlo in ihren Werken schmerzhafte Momente aus ihrem Leben festgehalten hat - jedes Bild ein erstickter Schrei -, so hat auch Drakulic die Erfahrungen und Empfindungen dieser ungewöhnlichen Frau in Erzählsegmenten verdichtet, die förmlich zur Entladung zu drängen scheinen.

Ausgangspunkt ihres Buches ist das Krankenzimmer der 47jährigen Künstlerin im "Blauen Haus" bei Mexiko City, in dem sie mit Diego Rivera, dem über 20 Jahre notorisch untreuen Ehemann, lebt. Gerade hat sie - es ist das Todesjahr - die letzte Operation in ihrer lebenslangen Krankengeschichte, die Amputation eines Beines, hinter sich. Ihre Gedanken schweifen in Bewusstseinsschüben zurück in die Vergangenheit. Ihre Erinnerung ist ihr "wie ein von feinen Fäden gewebtes Spinnennetz. Noch gelang es ihr, auf dem dünnen Faden zwischen zwei Löchern zu balancieren, mit der schwachen Hoffnung, am Ende werde sich ihr doch das ganze Netz offenbaren, werde sich erweisen, dass ihr Leben doch eine Sinnstruktur besaß". Hier in diesem Zimmer wird sie auch kurz darauf sterben, wobei Drakulic von einem Selbstmord ausgeht, der in der Realität allerdings nicht verbürgt ist.

Zwei konstitutive Momente des Textes treten hervor: die labile Befindlichkeit der Figur, von der erzählt wird, und die gleichbleibend berichtende Haltung der Erzählerin. So heißt es gleich zu Anfang: "Sie versuchte aufzustehen, dann ließ sie es sein. Ihr fehlte die Kraft. Fehlte die Ruhe. Mir scheint, mit meiner Beinamputation hatte ich dreißig und ein paar Operationen, dachte sie, während sie ihre Narben befühlte, an der Wirbelsäule, am Bauch, am Bein. Und was ist mit den Eingriffen, die keine sichtbaren Narben hinterlassen, ich frage mich, ob auch Fehlgeburten als Operationen zählen? Es gelingt mir nicht, mich an alle zu erinnern. Wie vergeblich ist meine Rechnerei...".

Gerade darin, dass vom Auftauchen dieser Ich-Perspektive keinerlei Aufhebens gemacht wird, weder durch irgendein kommentierendes Wort der Erzählerin noch durch einen Wechsel des Tons oder eine Abweichung im Rhythmus des Erzählflusses, zeigt sich eine Verschränkung von psychogen befindlicher Figurensicht und rational befindender Autorensicht, die von weitreichender Konsequenz ist. Erzählerstandpunkt und Weltbild stehen nicht mehr a priori. Sie werden in Abhängigkeit vom Gegenstand des Erzählens selbst beweglich und relativierbar.

Man hat den Eindruck einer ungemeinen Realitäts- beziehungsweise Gegenstandsnähe und einer intensiven Betroffenheit. Diese fortgesetzten, teils jähen, teils fließenden, unmerklichen Übergänge von einer Perspektive zur anderen weisen in der Figurensicht ein zunehmend gestörtes und gefährdetes Verhältnis zur Wirklichkeit auf. Der Lebenslauf Kahlos nimmt in vielem die Zerrissenheit der Zeitgenossen der Autorin vorweg. Figur und Leser werden so ganz dicht zusammengerückt, die innere Spannung einer seelische und körperliche Schmerzen erleidenden Kahlo überträgt sich auf den Leser. Drakulic gibt ihre Einsichten in die Psyche Kahlos auf dem Wege unmittelbarer Darstellung weiter. Die Ängste und Krisen der Kahlo-Figur bieten sich dem Leser als perspektivische, syntaktische und metaphorische Störungen im Text dar. Perspektivschnitte zwischen einer kühl registrierenden Außen- und einer emphatisch mitagierenden Innenansicht der Kahlo-Figur prägen den Text und lassen auch die Lektüre schlingern. Die Außen- wie Innenperspektive, der jähe Wechsel zwischen beiden, alles trügt: dieses zuckende Menschenwesen namens Kahlo kann in keine verbindliche sprachliche und erzählerische Ordnung mehr gebracht werden.

Ihre erste Lektion erhält die Kahlo-Figur, als sie mit 6 Jahren an Kinderlähmung erkrankt. Die Folge ist ein dünneres und kürzeres Bein, zeitlebens ein Hinken. Die Schule wird ihr ein Ort der Qual, aber auch ein Ort, wo sie sich zu wehren lernt. Wie kann sie aus einem körperlichen Makel einen Vorzug machen? Bei einem Verkehrsunfall entrinnt sie 1925 nur knapp dem Tode. Sie kann nie mehr Kinder gebären und muss bis zu ihrem Tode 32 Operationen über sich ergehen lassen. In der verkleinerten Welt des Krankenzimmers, von der sie den Eindruck hat, dass sie von Tag zu Tag noch kleiner wird, betrachtet sie auch die Gesichter der Menschen - auch ihr eigenes - auf eine neue Art.

Nun wird alles für sie zu einer Taktik der Flucht und der Täuschung. "Der Schmerz machte mir den Körper bewusst. Der Körper machte mir den Verfall und den Tod bewusst". Und an anderer Stelle: "Mein Aufschub des Todes schloss ein System der ständigen Erinnerung ein, die Gegenwart des Schmerzes". Sie beginnt im Krankenbett mit dem Malen, um sich von den schrecklichen Schmerzen abzulenken. In Selbstbildnissen setzt sie sich mit ihrem persönlichen Überlebenskampf auseinander, projiziert sie ihre Qual auf ihr eigenes Bildnis. In dem Selbstbildnis, das sie 1925 für ihren Jugendfreund Alex malt, ist sie noch das zarte, verletzliche junge Mädchen mit betonter Weiblichkeit, das Alex um Schutz bittet. Dann aber legt sie einen Panzer oder eine Maske an. Sie wird sich bewusst, dass ihre Bilder "die Macht der Sprache" besitzen. Sie malt "schreiende Bilder". Ihr "zertrümmerter" Körper ist ihr fremd geworden, sie erlebt die Erfahrung der Persönlichkeitsspaltung, und der Zustand ihres Körpers wird von nun an auch ihre Gefühle, ihr Verhalten, ihre Gedanken beeinflussen.

"Jetzt wagte sie Dinge, die andere nicht wagten, nachdem ihr das Überleben den Mut derer beschert hatte, die ohnehin nichts zu verlieren haben". Sie sucht den berühmten Maler Diego Rivera auf, der im Buch nur der "Maestro" heißt, damit er ihre Bilder beurteile. Sie zeigt sich ihm nackt: "Narben sind Stellen, durch die ein Wesen in die Einsamkeit eines anderen hineingeht, das habe ich an diesem Tag gelernt, von dir, mit dir". Beide heiraten 1929, aber Fridas Sieg ist nur von kurzer Dauer. Sie bekommt bald zu spüren, dass schöne Beine hinkende immer noch übertreffen werden. Denn der Maestro schläft weiterhin mit anderen Frauen, Freundinnen und Models. Sie verwandelt sich in eine Tehuanabäuerin, um ihm zu gefallen. Erst später, so Drakulic, wird das auch ein Element ihrer individuellen Ästhetik, ihres Stils.

"Sie teilte mit ihm den Glauben an die kommunistische Ideologie und die Idee der Gerechtigkeit", äußert sich die Autorin recht unverbindlich. Warum sich Kahlo zum Kommunismus bekennt, warum ihre Verbundenheit mit der kommunistischen Partei in ihren letzten Lebensjahren geradezu religiösen Charakter annimmt, warum sie eine Bewunderin des Diktators Stalin ist, warum die bereits todkranke Künstlerin 1954 im Rollstuhl unbedingt an einer kommunistischen Demonstration teilnehmen will - darüber erhält der Leser keine Auskunft.

So wie der Zeitbezug völlig zurücktritt, ihr Leben in Mexiko und in den USA merkwürdig anonym und unkonturiert erscheint, wird auch den wichtigen Inspirationsquellen der Kahlo - der mexikanischen Kunst und der europäischen Moderne - keine Aufmerksamkeit geschenkt. Hat sie nicht mexikanisches Erbe mit persönlicher Leidensfähigkeit, die eigene Lebensgeschichte begleitend und dramatisierend, verbunden? Ihr berühmtes Doppelporträt "Die zwei Fridas" (1939) behandelt gerade die Dualität ihrer Persönlichkeit - Mexikanerin und doch europäisch geprägt zu sein. Kahlo beschrieb ihr eigenes Leben symbolhaft und bettete es zugleich in den Mythos der Geschichte.

Davon erfahren wir aber nichts in diesem Buch. Alles konzentriert sich auf die Verwandlung der Kahlo-Figur in ein neues Selbst, als exotische Gattin des Maestro: Wie sie jeden Morgen den Zustand ihres Körpers überprüft, sich ankleidet, als ob sie sich auf einen Bühnenauftritt vorbereitet, wie sie nichts mehr dem spontanen Zufall überlässt, sondern die Repräsentation ihrer selbst probt, wie sich die Routine schließlich in ein Ritual verwandelt. Ihr Körper ist Objekt - nicht nur der Medizin, sondern auch der Malerei - und Instrument zugleich - des Genusses und der Eitelkeit.

"Jede neue Frau, die in der Nähe des Maestros auftauchte, verstand sie als Bedrohung. Wie eine Schlange hypnotisierte sie sie zuerst, und dann neutralisierte sie sie mit ihrem Charme. Betäubte sie mit ihrem Gift". Am tiefsten trifft sie der Verrat ihrer Lieblingsschwester Cristina, die sie im Bett mit dem Maestro überrascht. Gewöhnlich glaubte sie am Maestro den Geruch einer anderen Frau wahrnehmen zu können. Aber diesmal hat ihr Instinkt versagt. Es liegt ihr mehr daran, den Maestro zu rechtfertigen als Cristina. Und nie mehr, so verspricht sie sich nach diesem Vorfall, werde sie jemanden erlauben, ihr so nahe zu kommen - es wäre für sie lebensgefährlich. Sie verlässt den Maestro. Sie führt ein ebenso promiskuitives Leben - zu ihren Liebhabern gehört auch der Emigrant Leo Trotzki. Sie lernt die Liebe von der Leidenschaft zu trennen, was ihr mit dem Maestro nicht gelungen war - und kehrt doch wieder zu ihm zurück. Aus der liebenden Frau wird jetzt die mütterliche Freundin. Auf dem Bild "Die Liebesumarmung des Universums" (1949), das auch viele traditionelle mexikanische Motive aufgreift, ist zwar der Maestro im Zentrum ihres Universums, aber sie hält ihn als hilfloses Kind auf ihrem Schoß, ganz auf den Schutz der Mutter angewiesen. Gerade die Bilder, die starke autobiografische Elemente aufweisen, werden von Drakulic in die Rückblende ihrer Figur mit einbezogen.

Die Kahlo-Figur greift zu einer noch grausameren Sprache, bringt eine gebrochene Wirbelsäule ins Bild, Wunden am Bein, ein herausgeschnittenes Herz, das auch Bezug auf den Opferbrauch der Azteken nimmt, Blut, aus einer aufgeschnittenen Ader rinnend, ein von Pfeilen durchbohrter Körper, eine Anspielung auf Darstellungen des heiligen Sebastian, Föten und Abgänge, Blutflecken auf weißem Laken, eine Geburt. Sie will - so die Erklärung der Autorin - den Schatten des Todes auf Distanz halten, indem sie ihn auf die Bilder bannt. Malen musste sie, weil "sie nicht ständig brüllen konnte vor Schmerz", aber mit dem Malen konnte sie auch dem Tod eine Lebensgeschichte abringen, die zu einer der ungewöhnlichsten in ihrem Jahrhundert gehört.

Zweifellos fehlt es dem Frida-Kahlo-Porträt von Slawenka Drakulic an einer straffen Organisation des Stoffes, es gibt unnötige Wiederholungen, das Schmerz-Thema - mehr des körperlichen als des seelischen Schmerzes - ufert mitunter aus, der sexuelle Exhibitionismus des Maestros wird ins Unerträgliche gesteigert. Und dennoch - dass man die Lebensstrategie dieser bewundernswerten Frau, die zugleich eine große Künstlerin ist, so unmittelbar, so hautnah zu erleben vermag, gehört zu dem unbestreitbaren Verdienst dieses Buches.


Titelbild

Slawenka Drakulic: Frida. Roman.
Übersetzt aus dem Kroatischen von Katharina Wolf-Grießhaber.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2007.
176 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552054080

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