Mutter sein ist schwer

Martina Borgers Briefroman "Lieber Luca" enttäuscht

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was geschieht, wenn eine Frau ganz in ihrer Mutterrolle aufgeht und dann den Kontakt zu ihrem mittlerweile 16 Jahre alten Sohn abbricht? Dieser eigentlich sehr interessanten Frage widmet sich der neueste Roman von Martina Borger.

Kaum ein Thema ist gesellschaftlich und psychologisch aufgeladener als die Beziehung zwischen Mutter und Kind. Glaubt man den allgegenwärtigen Mythen, so ist die Mutterliebe bedingungslos und unendlich. Auch Simone, die Protagonistin dieses Briefromans, lebt viele Jahre in der gesellschaftlich sanktionierten Rolle der liebenden und verzichtenden Mutter. Wegen ihres Sohnes gibt sie ihre eigenen Karrierewünsche auf. Sie hat den Ehrgeiz, "eine Mutter zu sein wie aus dem Bilderbuch des aufgeklärten liberalen Mitteleuropäers, unkonventionell, fröhlich, tolerant, für jeden Spaß zu haben". Die Realität sieht natürlich oft anders aus. Sie gesteht sich selber ein, dass vor allem in ihren letzten gemeinsamen Wochen ihr Sohn sie wohl eher als "Horrorbild einer Mutter" erlebt haben musste: hysterisch, aggressiv und oft den Tränen nahe.

Obwohl das Thema des Romans wichtig und interessant ist, überzeugt die Prämisse des Geschehens nicht. Es wird nicht klar, warum Simone so verletzt und trotzig auf den Wunsch ihres Sohnes reagiert, ein Jahr mit seinem Vater in Italien zu verbringen - genauso wenig wie deutlich wird, warum sie nach über fünf Jahren "Eiszeit" (ein Begriff, der unendlich oft wiederholt wird) anfängt, unabgeschickte Briefe an ihren Sohn zu schreiben. Fünf Jahre lang verweigert sie jeden Kontakt und jede Reflektion, und auf einmal ist sie bereit, sich ihren tiefsten und verborgensten Gefühlen zu stellen? Selbst ihrem neuen Partner, mit dem sie eine gänzlich emotionslose Beziehung führt, hat sie nichts von ihrem Sohn erzählt. Jahrelang lebt sie freudlos in den Tag hinein und verdrängt jegliche Gefühle. Was sie auf einmal dazu bringt, sich diesen uneingestandenen Emotionen zuzuwenden, ist für den Leser nur schwer nachvollziehbar.

Borger versucht, die Leere und den Schmerz der plötzlich auf sich allein gestellten Frau zum Ausdruck zu bringen. Dabei entsteht ein relativ flaches Porträt eines depressiven Menschen in einer Sinnkrise. Die Angst, dass andere sie bemitleiden oder verachten, treibt Simone in eine selbst gewählte Einsamkeit und Isolation. Sie hat ein Tabu gebrochen, vielleicht das größte Tabu in der Gesellschaft - die Verweigerung der unwiderruflichen und absoluten Mutterliebe. Leider führt diese vielversprechende Ausgangssituation nicht zu ehrlichen, tiefgreifenden Reflektionen, sondern nur zu Banalitäten. Kurze Momente der Selbsterkenntnis gehen unter zwischen Alltagsbeschreibungen und langweiligen Nichtigkeiten.

Die Protagonisten in Borgers & Maria Elisabeth Straubs früheren, hoch gelobten Erzählungen "Katzenzungen", "Kleine Schwester" und "Im Gehege" sind zwar auch nicht gerade sympathisch, aber sie besitzen eine Tiefe, die der Ich-Erzählerin in "Lieber Luca" fehlt. Die Beschreibung Simones kommt in vieler Hinsicht nicht über Stereotypen hinaus. Die eigentliche Komplexität ihrer Beziehung zu ihrem Sohn verschwindet unter Floskeln und Verallgemeinerungen, genauso wie die kulturellen Unterschiede zwischen Deutschen und Italienern auf ein nur leicht gehobenes Stammtischniveau reduziert werden. Ein Hauptgrund dafür ist wohl die strikte Form des Romans und der gescheiterte Versuch der Autorin, allein durch Briefe eine Geschichte erzählen zu wollen. Hintergrundinformationen für den Leser müssen an Luca adressiert werden; sie fließen dann im Stil von "Du weißt, was für ein höflicher und herzlicher Mensch Chiara ist" ein.

Nein, die auf dem Klappentext angekündigte "Hochspannung" bei der Enthüllung des "Seelendramas" stellt sich beim Lesen wirklich nicht ein. Wenn Simone ihren letzten Brief an Luca mit "Du hast es fast geschafft" beginnt und sich wundert, ob er Überdruss, Erleichterung, Enttäuschung oder Unverständnis empfindet, so könnte das durchaus an den Leser gerichtet sein.


Titelbild

Martina Borger: Lieber Luca. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2007.
208 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783257861600

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