Spielräume subjektiver Aneignung

Frank Bösch und Manuel Borutta vollziehen mit ihrem Sammelband "Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne" die Revision des Identifikationsbegriffs nach

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sollte es so etwas wie einen "Emotional Turn" in den Geisteswissenschaften geben, so ist er in der Medienwissenschaft bereits vollzogen. Diesen Eindruck vermittelt jedenfalls der von Frank Bösch und Manuel Borutta herausgegebene Sammelband "Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne".

Die einzelnen Beiträge setzen der negativen Konnotation, die den - zumal durch Massenmedien provozierten - Gefühlen im Sinne kulturkritischer Deutungsmuster seit Ende des 19. Jahrhunderts anhaftete, interdiszipliäre und historische Untersuchungen individueller Emotionen entgegen. Diese sollen zeigen, dass sich die Emfindungen der Konsumenten massenwirksamer Inszenierungen letztlich den "Spielräume[n] eigensinniger Aneignung" verdanken, die die Medien trotz ihres umfassenden kollektiven Einflusses erlauben.

So eröffnen die Herausgeber ihre instruktive Einleitung mit dem Beispiel der US-Fernsehserie "Holocaust", die im Januar 1979 20 Mio. Zuschauer des westdeutschen Fernsehpublikums erreichte, ungeahnte Reaktionen von Trauer über Scham bis hin zu Wut und Hass hervorrief und im selben Jahr immerhin mit dazu führte, dass die Aufhebung der Verjährung von Mord und Völkermord im Deutschen Bundestag eine Mehrheit fand.

Der Band greift die in der Geschichtswissenschaft anhand solcher Beobachtungen zuletzt mehrfach erhobene Forderung nach der historischen Erforschung von Emotionen auf und konzentriert sich dabei vor allem auf die Analyse von Zeitungen, des Radios, des Films und des Fernsehens.

So arbeitet eingangs der Bochumer Medienwissenschaftler Vinzenz Hediger heraus, dass der oft behauptete Distanzverlust des Individums bei der "Identifikation" mit massenmedial vermittelten Emotionen so nicht mehr haltbar sei. In Bezug auf philosophische, psychologische und filmwissenschaftliche Theoreme entwickelt Hediger Ansätze einer Emotionstheorie der Massenmedien, die nahelegen, dass der Zuschauer aktiv an der Inszenierung moralischer Konflikte teilnehme und keinesfalls von bloßen Substituten realen Erlebens gefesselt werde. Hediger knüpft dabei unter anderem an Murray Smiths differenziere These an, wonach der Konsument von Massenmedien sein Selbst nicht aufgeben müsse, um die dort verhandelten Diskurse nachzuvollziehen.

Dies führt Hediger zur abschließenden Forderung einer Operationalisierung philosophisch-ästhetischer Filmtheorien wie etwa der Gilles Deleuzes, die zu einer Analyse vorsprachlicher Elemente emotionaler Medienrezeption anleiten könnten. Ließen sich doch diese Theorien nicht zuletzt mit neueren kognitionswissenschaftlich-psychologischen Ansätzen verbinden, die ebenfalls der europäischen Denktradition entegegen arbeiten, die besagt, dass "Gefühle ohne Verstand sind, also kognitiv defizient, weshalb sie sich manipulieren, d.h. täuschen lassen" (Hediger).

Solchen erhellenden interdisziplinären Zugängen, zu denen im Band auch Hermann Kappelhoffs mediengeschichtliche Rückblicke auf die "Urszenen des Mitgefühls" im Melodram seit dem 18. Jahrhundert zählen, stellt die Publikation eine große Bandbreite historischer Medienanalysen an die Seite. So findet etwa das Genre des Kriegsfilms genauso Beachtung wie Werner Höfers "Internationaler Frühschoppen", der das deutsche Fernsehpublikum von 1952 bis 1987 jeden Sonntagvormittag mit alkoholbefeuerten Pressediskussionen zu tagespolitischen Themen in Atem hielt.

Höfer, der seine Karriere vor 1945 in der nationalsozialistischen Presse begonnen hatte, ließ an seinem halbrunden Tisch nämlich echten Wein ein- und nachschenken, um dem der Sendung ihren Titel gebenden männerbündischen Ritual alle Ehre zu machen: "Um Rheinwein auszutauschen und sich zu konfrontieren zu lassen, sitzen wir hier", zitiert die Berliner Historikerin Nina Verheyen den legendären TV-Gastgeber. Dabei ging es oft hoch her: Höfer stand manchmal sogar auf und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, um die im verbalen Clinch liegenden Live-Diskutanten zur Ordnung zu rufen - oder, je nach Sicht der Dinge, selbst 'aus der Rolle' zu fallen.

Verheyen vermutet, dass auch dieses prekäre "Gefühlsmanagement" für das Massenpublikum von zentralem Interesse war und zu dem großen, langanhaltenden Erfolg der Sendung beitrug. Nicht zuletzt sei ein solcher 'unkontrolliert' gesendeter Diskussionsvorgang in der vom Nationalsozialismus geprägten deutschen Nachkriegsgesellschaft als Urszene demokratischer Meinungsfreiheit eine vollkommen neue Erfahrung gewesen.

Wie dem auch sei: An Verheyens Beitrag lässt sich auf frappierende Weise nachvollziehen, wie schnell massenmediale Rituale, die den Alltag ganzer Generationen prägten, selbst wieder Geschichte - und damit emotionshistorisch analysierbar - werden. So sei diese Rezension beschlossen mit einem Zitat Höfers aus dem Jahr 1967, als er eine turbulente TV-Diskussion zu den Berliner Studentenprotesten und der Ermordung Benno Ohnesorgs mit weit auseinander gebreiteten Armen und den denkwürdigen Worten beendete: "Auch mein letztes Wort, mein Toleranzedikt: Prosit, meine Herren, Prosit Berlin [...] Prost Freunde."


Titelbild

Frank Bösch / Manuel Borutta (Hg.): Die Massen bewegen. Medien und Emotionen in der Moderne.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
411 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3593382008

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