Keine Ausichten ohne Einsichten

Von Hennen, Menschen und Marzipanmännern

Von Doris KleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Doris Klein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den 27 kurzen Texten ihres 1995 in deutsch erschienen Prosabandes "Gute Knochen" liefert Margaret Atwood den Beweis ihrer Fähigkeit, in jede beliebige - keinesfalls wahllose - Erzählperspektive zu schlüpfen. Ob dies nun Gertrude, Hamlets Mutter in "Gertrude widerspricht", ein Menschen erforschender Falter, oder ein Huhn ist wie in "Die kleine rote Henne packt aus". In letztgenannter Episode erzählt Atwood die Parabel vom Undank als Weltenlohn am Beispiel eines zufällig gefundenen Weizenkornes, aus dem unter Anwendung sämtlicher kapitalistischer Akkumulationsregeln ein Brotlaib wird. Den ihr freilich keiner dankt.

Es sind im besten Wortsinn phantastische Geschichten - morbide, witzig, lakonisch - von weiblichen Körpern, Fledermäusen, Raymond Chandler, häßlichen Schwestern und dummen Frauen. Und auch eine Bastelanleitung für Männer - in bedarfsgerechten Variationen - liefert sie mit.

In "Stümpfejagd" erfährt der Leser etwas über die beliebteste Tarnung wilder Tiere: Baumstümpfe, die sich mit Vorliebe und weitestgehend im Wasser verbergen. Man erhält eine exakte Anleitung dafür, wie der Stumpf zu erlegen, zu transportieren, zu filetieren und zu lagern sei. Die Erzählerin gibt detaillierte Hinweise zur Zubereitung (Grill, Wok oder Pfanne), doch die Garantie fürs Gelingen bleibt sie aus gutem Grund schuldig, denn "wenn es Holz bleibt, haben Sie einen Fehler gemacht. Das ist einfach Pech! Sie haben sich den einen abgestorbenen Baumstumpf unter Tausenden ausgesucht, der nicht in Wirklichkeit ein Tier ist. Versuchen Sie es später noch einmal."

In jeder ihrer Geschichten die verborgene Botschaft finden zu wollen, würde der Autorin nicht gerecht, denn es sind häufig die an Nonsens grenzenden Texte, die Komik aus der überraschenden Wendung, dem unerwarteten Schluß ziehen und dem Prinzip des Paradoxen im Witz folgen. Nichtsdestotrotz bleibt Atwood auch ihren Themen treu, wenn sie etwa in "Es war einmal" den Dialog zwischen einem Paar entspinnt, dessen männlicher Part ein Märchen zu erfinden versucht, jedoch von seiner feministisch, sozialkritisch und politisch korrekt argumentierenden Gesprächspartnerin so gnadenlos wie selbstgefällig auseinandergenommen wird, dass vom "Es war einmal ein armes Mädchen, ebenso schön, wie es gut war, das mit seiner bösen Stiefmutter in einem Haus im Wald lebte" am Ende des Disputs nur noch das "Es..." übrigbleibt. Und selbst dies fällt der Kritik mit dem finalen Einwand "warum nicht sie?" zum Opfer.

Ihrerseits "politisch korrekt" sind Atwoods Texte weise in einer undogmatischen Art, die nichts zu tun hat mit erhobenem Zeigefinger oder gar Moralin. Und der ihnen innewohnende Witz verleitet nicht zum Brüllen. Margaret Atwood hat noch immer etwas zu erzählen und sie wird nicht müde, stets neue fesselnde Spielarten ihres Könnens zu präsentieren. Ihre Erzählungen, Märchen, Fabeln und Parabeln sind klug und witzig; sie verhelfen zu Einsichten wie zu Aussichten gleichermaßen, indem sie die Dinge und deren Gesetzmäßigkeiten zunächst einmal auf den Kopf stellen und den Leser zwingen, die fremde Perspektive einzunehmen. So bizarr die meisten dieser Geschichten anmuten, so ist doch das eigentlich Bizarre daran das Objekt der Betrachtung selbst: der Mensch. Amüsante Geschichten mit hohem Wiedererkennungsfaktor.

Titelbild

Margaret Atwood: Gute Knochen.
Berliner Taschenbuchverlag, Berlin 1995.
139 Seiten,
ISBN-10: 3833304820
ISBN-13: 9783833304828

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