Der Elektro-Argus im Röntgenblick

Im aufschlussreichen Sammelband "Bild-Raum-Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels" werden Möglichkeiten und Auswirkungen der Kameraüberwachung diskutiert

Von Martin RichlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Richling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Alle Menschen haben das Grundrecht, sich in der Öffentlichkeit zu bewegen, ohne daß ihr Verhalten durch Kameras aufgezeichnet wird". Das den Buchrücken dieses Bandes zierende Zitat aus der im Jahr 2002 abgehaltenen Konferenz der Datenschutzbeauftragten weist auf die Notwendigkeit hin, Videoüberwachung auf hohem Niveau und auf einer breiteren Basis als der der Kriminalistik anzugehen, die sich bislang hauptsächlich mit den Überwachungskameras auseinander gesetzt hat. Kaum ein anderes Thema wird derzeit wohl so heterogen diskutiert. Als Orwell'sches Szenario der totalen Überwachung fürchten es die Einen, als notwendiges Sicherheitsinstrument oder gar demokratisches Prinzip, das alle ohne Unterschied in das Blickfeld nimmt, begrüßen es die Anderen.

Den Texten, die vor allem die Methodik und die Positionen der Soziologie, der Politologie sowie der Kultur- und Medienwissenschaften vertreten, gelingt in exzellenter Art und Weise ein ebenso historischer wie vielfältiger Blick auf die Videoüberwachung. Eric Töpfer stellt in seinem Aufsatz ihren unmittelbaren militärhistorischen Hintergrund heraus und betrachtet ferner ihre aktuelle Verbreitung im öffentlichen Raum als logische Konsequenz der im Terrorismuszeitalter geführten asymmetrischen Kriege. Viele Autoren sehen die Anfänge der Videoüberwachung jedoch noch weiter zurückreichend. Das von Jeremy Bentham im 19. Jahrhundert geplante, aber in dieser Form nie realisierte Panoptikum - ein Gefängnisbau, in dessen Mitte ein Turm dem Wächter den Blick auf alle Gefangenen ermöglichte, ohne selbst gesehen zu werden - wird (mit Michel Foucault) als Beginn eines institutionell kontrollierenden Blickes gesehen, der allein durch die Potenzialität des Gesehenwerdens seine Objekte zu disziplinieren sucht. Doch es finden sich auch Stimmen, die das Prinzip des Panoptikums, bei dem Einer Viele beobachtet, mittlerweile durch das des Synopticons, bei dem Viele Wenige beobachten können, abgelöst sehen.. Etwa die Beiträge von Lutz Ellrich und Leon Hempel, die sich mit der Rolle des Fernsehens und TV-Serien wie "Big Brother" beschäftigen, kommen nicht umhin, festzustellen, dass die voyeuristische Lust der Zuschauer zweifelsohne mit einer offenbar zunehmenden Lust am Beobachtetwerden verbunden ist. Beiträge wie der von Jörg Metelmann relativieren die Angst vor der Videoüberwachung, indem auf die steigende Medienkompetenz der beobachteten Bürger verwiesen wird, die ein Wissen um die Schwächen der Technik vermittelt - etwa dass ein Großteil der Videobilder niemals gespeichert oder angesehen werden. Ein erhellendes Faktum, das sich durch die meisten Beiträge zieht, ist dann auch die Irrelevanz der kleinen Videokameras für die Senkung der Kriminalitätsrate: Einzig in Parkhäusern haben seit deren Einführung die Straftaten signifikant abgenommen.

Auch die in einigen Beiträgen thematisierte, stetig voranschreitende Digitalisierung der Videoüberwachung wird in ihren Auswirkungen heterogen beurteilt. Intelligente Software, die mittels Abgleich mit Datenbanken Gesichterkennung und automatische Warnungen an das Überwachungspersonal ermöglicht, beurteilt Wolfgang Ernst nicht als Garant für eine totale visuelle Erfassung, da mit der Digitalisierung der Verlust von Zwischenwerten sowie die Reduzierung des Individuums auf einzelne Datenmengen einhergeht. Clive Norris sieht dagegen bereits im binären Prinzip der Digitaltechnik eine totalitäre, inhumane Komponente: Die Softwarealgorithmen zur Erkennung von Gesichtern oder auffälligen Bewegungen können, im Gegensatz zu menschlichen Betrachtern, zu keinem differenzierten Urteil kommen. Zwischen Identifizierung oder Nicht-Identifizierung, legalem oder illegalem Verhalten liegt hier kein Spektrum mehr, das Entscheidungsspielräume zulässt. Auch die Überwindung von Zeit (durch die potenziert speicherbaren Datenmengen oder Software, die die extrem zeitraubende Sichtung erleichtert) und Raum (durch die Datenübertragung via Internet, die den Beobachter in einem Kontrollraum mit potentiell beliebig vielen Behörden vernetzt) sieht Norris als eine spürbare Ausweitung des kontrollierenden Blicks durch den Staat. Doch der Verweis einiger Beiträge auf das Rodney-King-Video, das mit Hilfe der Videokamera und der Distribution im Internet zu (gewalttätigen) Massenprotesten gegen polizeiliche Willkür führte, macht noch einmal deutlich, dass eine Technik oder ein Medium keineswegs eindimensional als "gut" oder "böse" bezeichnet werden kann, sondern vor allem der Gebrauch durch den Menschen hinter ihr entscheidend ist. Zur Beobachtung der Beobachter hinter den elektronisch-digitalen Augen halten die spannenden und klugen Aufsätze dieses Bandes allemal an.


Titelbild

Leon Hempel / Jörg Metelmann (Hg.): Bild - Raum - Kontrolle. Videoüberwachung als Zeichen gesellschaftlichen Wandels.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2005.
403 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-10: 3518293389

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