Als Don Quijote ins Reich der Freiheit

Lothar Schröder erkennt in Albert Vigoleis Thelens Figur Vigoleis einen "Wiedergänger Don Quijotes"

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1953 erschien "Die Insel des Zweiten Gesichts". Der Autor dieses großartigen Buchs war ein bis dahin nur einigen eingeweihten Lesern als Übersetzer des portugiesischen Dichters Teixeira des Pascoaes vertrauter niederrheinischer Schriftsteller. Der Untertitel des Buches lautete: "Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis". Der Autor hieß Albert Vigoleis Thelen.

Wer war dieser Vigoleis? Was anmutet wie eine zufällig-kuriose Namenszusammenstellung, der Anstrengung namensgebender Personen geschuldet, ist tatsächlich eine "eigenhändige Taufe": der Student wählt den Beinamen Vigoleis während seiner Studienzeit in Münster. "Und weil es ihm sehr an der Glaubwürdigkeit dieses außergewöhnlichen Aktes gelegen ist, versäumt er nicht, mit Münster, der ,historischen Stadt der Wiedertäufer', eine geschichtlich beglaubigte Kulisse herbeizuzitieren." Der Akt des jungen Studenten ist für den Autor der vorliegenden Studie "eine literarische Geburt" und markiert den Anfang jener "literarischen Biografie", die der Autor als "Wiedergänger Don Quijotes" kennzeichnet. Also ist auch der Name kein Zufall: Vigoleis entlehnt sich dem "Wigalois" des Wimt von Grafenberg, einer mittelhochdeutschen Versdichtung aus dem 13. Jahrhundert, die im Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit sehr populär war. Der Name belegt für den Autor zunächst die Verankerung "im zeitlichen wie geistigen Kontext des Mittelalters". Dass zudem "Vigoleis sein abschweifendes Erzählen auch mit dem permanent bewegten Rädchen auf dem Helm des Ritters [der deshalb oft auch als der "Ritter mit dem Rade" bezeichnet wird, HGL] vergleicht und sich sogar öfters selbst als Rittersmann charakterisiert, knüpft die Bande zur mittelalterlichen Dichtung enger; und schlägt eine weitere Brücke eben jene zum Rittertum, dem Wigalois in all seinen Taten verpflichtet ist. Dichtung, Mittelalter und Rittertum - diese drei... Merkmale müssen... Vigoleis letztlich bestimmen."

Mittels einer werkkundigen Betrachtung der beiden Hauptwerke aus den Vigoleis'schen "angewandten Erinnerungen", der "Insel des zweiten Gesichts" sowie "Der schwarze Herr Bahßetup" findet der Autor schlüssige Belege dafür, dass Vigoleis "vor allem ein Produkt der Literatur" ist. "Denn Vigoleis", so erläutert der Autor einleitend, "steht für einen besonderen Lebensentwurf, für eine Begegnung und Auseinandersetzung mit der Welt, die sich aus der Tradition der Weltliteratur nährt und in die Gegenwart verlängert wird. Das geschieht vor allem in der Figur des Don Quijote, des großen Ahnherrn der modernen Literatur." Es ist der Versuch, Literatur "in radikaler also quijotischer Weise zu leben".

Damit kreist die Studie um einen bedeutsamen Topos der Literatur: die imaginierte Biografie. Im Falle Albert Vigoleis Thelen berührt das zunächst die simple Frage, inwieweit die "Insel des zweiten Gesichts" eine biografische Geschichte erzählt. Thelen lebte mit seiner Frau Beatrice von 1931 bis 1936 auf der Insel Mallorca. Der Aufenthalt wurde zum Exil, als 1933 die Nazis in Deutschland die Macht übernahmen. Nachdem die Franco-Faschisten im spanischen Bürgerkrieg die Oberhand gewonnen hatten, bot die Insel keinen Schutz mehr und Thelen flüchtete vor den Falangisten über Frankreich in die Schweiz.

In der konkretistischen Sichtweise wird der sprachkünstlerische "Schelmenroman" gerne als ,Mallorca-Buch' verstanden, und sie mündet konsequenterweise in Anfragen von Reisebuchverlagen an den Autor, Beiträge für geplante Mallorca-Bücher zu schreiben. Vigoleis' angewandte Erinnerungen als amüsante Sommerlektüre für Mallorca-Touristen?

Davor schützt schon der zeithistorische Bezug, welcher in der "Insel" eine wichtige Rolle spielt. Deutlich wird eine antifaschistische Haltung, die aber nicht in einem eindimensional politischen Sinne zu verstehen ist. Thelen ist kein ,politischer Schriftsteller'. Hier nun erweist sich die erfundene Figur des Vigoleis als Grundlage einer umfassend "außenseiterischen" Existenz, die das Politische gleichsam mit umfasst: diese äußert sich in den unterschiedlichen Figurationen des Vigoleis - als Anarchist, als Bohèmien, als Schelm oder schlicht als ,armer Poet'. Dieses Moment der Donquijoterie wird durch die ausschweifende Erzählkunst ergänzt. Sie ermöglicht "das unbegrenzte Spiel mit der Fantasie, für hohe Ideale und in diesem Sinne einer von Geist erfüllten Kultur." Aus dem Selbstverständis der imaginierten Biografie erwächst über die literarisch-ästhetischen Formen hinaus ein historischer Standpunkt. Die donquijotischen Ideale begründen in dieser Situation einen Humanismus, der in der konkreten historischen Situation zur Opposition gegen den Faschismus (und dem beinahe vornamensgleichen "Unsäglichen"...) führt.

Bis zu diesen Schlussfolgerungen will Schröder seine Darlegungen nicht führen. Er beschränkt sich darauf, den donquijotischen Wiedergänger in der Figur des Vigoleis und Belege hierfür "aus dem Werk selbst heraus zu finden". Das ist einerseits erhellend. Anderseits unzureichend, denn "das Bemühen, vor allem in den Phänomenen der Dichtung selbst das Wesen der Dichtung zu erkennen" kommt letztlich doch über die literarisch-ästhetischen Beschreibungen, dessen, was "das Wesen" der Dichtung sein soll, nicht hinaus. Es fragt nicht nach der Bedeutung der Erkenntnisse. Indes wäre Vigoleis die Figur, an der zu zeigen wäre, wie das Wesen der Dichtung über die Literatur hinausweist ins Politische hinein. Die Bedeutung Thelens wäre anschließend neu zu ermessen in der Gesellschaft der großen Humanisten der Literatur.


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Lothar Schröder: Vigoleis - ein Wiedergänger Don Quijotes. Eine Untersuchung zum literarischen Lebensweg des Helden im Prosawerk Albert Vigoleis Thelens.
Grupello Verlag, Düsseldorf 2007.
178 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783899780802

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