Altersgemäße Betrachtungen eine Nietzscheaners

Matthias Polityckis Essayband "Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft" vereint politische Relevanz, Formbewußtsein und Europäertum

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein anderer Autor der deutschen Gegenwartsliteratur reflektiert so konsequent das Vergehen der Zeit und das Altern von Menschen, Moden und Generationen wie Matthias Politycki. Manifestiert hat sich dies etwa in seiner publizistischen Ausrufung der übersehenen Zwischengeneration der 78er in den 1990er-Jahren, aber auch in der Darstellung der (drei) Liebschaften seines Protagonisten Gregor Schattschneider, selbst ein "78er", im erfolgreichen "Weiberroman"'. Auch der daran anschließende Roman "Ein Mann von vierzig Jahren", der sich folgerichtig an einer weiteren Liebesaffäre Schattschneiders entlang hangelt, zeigte den Schriftsteller als zeitsensiblen Chronisten der 1970er-bis 1990er-Jahre. Die Education sentimentale Gregors verdichtete stets auch einen ganzen Kosmos alltagshistorischer Details. Schon vor der großen Welle feuilletonistischer Altersdebatten im Anschluss an Frank Schirrmachers "Methusalem- Komplex" widmete Politycki in der "ZEIT" einen provokanten Bericht von der Rolling Stones Tournee 2003 unter dem wunderbaren Titel "Betreutes Wohnen auf der Bühne" dem schwierigen Verhältnis von Jugendkult und angemessenem, würdevollem Altern.

Dieser Artikel wird nun nebst zwei Dutzend anderen der Jahre 1998-2006 im Essayband "Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft" wiederabgedruckt. Ein so zeitsensibler und beweglicher Kopf wie Politycki mag es freilich nicht beim bloßen Wiederabdruck belassen. Jeder Essay wird vielmehr mittels einzelner Fußnoten (mithin einem Stellenkommentar) aktualisiert. Und darüber hinaus folgt jedem Text unter der Rubrik "revisited" ein neuer Text zum Thema, der den ursprünglichen Artikel gelegentlich im Umfang weit übertrifft. Wie schon im vorigen Band "Die Farbe der Vokale" von 1998 präsentiert sich der Autor, der sich in seiner Promotion mit Nietzsche als Literaturkritiker befasst hat, als politischer wie ästhetischer Freigeist und glänzender Stilist. Er ist auf der Suche nach einem neuen Typ des politischen und doch unabhängigen Schriftstellers und polemisiert gegen den linkskonservativen Standort vieler deutscher Intellektueller. In seiner Einleitung heißt es, der Band verstehe sich als "vorläufige Quersumme dessen, was sich im Abarbeiten am 'Politischen' der großen Welt- wie der kleinen Alltagsgeschichte während der letzten Jahre als mein Standpunkt herauskristallisiert hat. Manches davon - das Selbstverständnis als europäischer Patriot, als Parteigänger einer kosmopolitischen Weltordnung - zieht sich seit je durch mein Denken; manch andres - Zweifel am spätdemokratischen Glücksversprechen der Aufklärung, Respekt für religiöse Welterklärungsmodelle - ist mir als bekennender Nietzscheaner, der ich natürlich immer noch und vor allem anderen bin, erst in jüngster Zeit virulent geworden." Der auch in seinen Romanen vom experimentell avantgardistischen Frühwerk zum flott fabulierenden Erzähler mutierte Autor konzediert so eine Aufwertung der Moral gegenüber dem Ästhetizismus. Und er bekennt sich zur neuen Einsicht, dass die "Relevanz der Themenstellung wichtiger sein könnte als ihre artistische Gestaltung". Freilich möchte er das nicht als Opfer von Artistik und Ästhetik verstanden wissen, sondern als ein Schritt der Reifung: "Auch in meiner Liebe zum Formalen bin ich älter geworden, ohne jung zu bleiben, und ich bin dabei mit mir im Reinen."

Der bissige Essay über die Rolling Stones seziert die diversen Modi und Strategien des Alterns, die von den einzelnen Bandmitgliedern, aber auch von anderen Musikern wie Carlos Santana, Peter Gabriel oder Robert Plant von Led Zeppelin verkörpert werden. In diesem Fall ergibt der beigefügte neue Kommentar unbedingt Sinn und macht Spaß: denn Politycki fügt pointierte Passagen aus dem Internet-Leserforum der Musikzeitschrift "Rolling Stone" zu einer Collage, die auf seine Kritik der Stones - näherhin: ihres zur lächerlichen ewigen Jugend verdammten Frontmannes Mick Jagger - antworten. Auch gegen Otto Schilys exaltierte Körpersprache im Fußballstadion verwahrt sich der Schriftsteller auf seiner Suche nach einem altersgemäßen Lebensstil: "Bloß nicht mit Siebzig so tun, als sei man noch ein jugendlicher 'Heißsporn', voller 'ungezügelter Affekte'!"

Mehr noch als die Terroranschläge des 11. September, auf deren Auswirkungen sich einige der Artikel beziehen, erscheinen Polityckis Kuba-Aufenthalte als Schlüsselerlebnisse, die auch zu seinem Roman "Der Herr der Hörner" führten. Unter den Verhältnissen extremer materieller Armut und überreicher, bedrohlich vitaler religiöser Riten galt es sämtliche, bisher selbstverständlichen denkerischen Positionen einer Prüfung zu unterziehen: "Das Bestürzende an solchen Reiseerlebnissen ist weniger die Scham angesichts einer ungebremst sich inszenierenden Virilität, sondern die kulturelle, besser: weltanschauliche Schwäche, die wir nebenbei bitter zu fühlen bekommen." Im Essay wie im Roman adaptiert der Nietzsche-Adept nun nicht nur dessen Artistik und Freidenkertum, sondern auch dessen Vitalismus: "Noch nie waren wir so hilflos angesichts außereuropäischer Herausforderungen wie heute. Bräuchte der islamische Raum vielleicht dringend eine kräftige Injektion kritischer Vernunft [...] oder brauchen, im Gegenteil, wir selber eine Reduktion derselben, um durch Vereinfachung einer allzu komplexen Weltsicht wieder an ihre vitalen Wurzeln zu kommen?" In einer Fußnote relativiert der mit einer Konversion zum kubanischen Santeria-Kult kokettierende Autor seine Bemühungen um einen Anschluss an 'das Irrationale' als Kraftquelle: "allerdings käme's entscheidend darauf an, dies Irrationale nicht in den Untergrund einer wild wuchernden Privatreligiosität abzudrängen, sondern in ein rationales Gesamtkonzept einzubetten und damit zu bändigen."

Seinen tagesaktuellen Kommentar zum 11.September 2001 ergänzt der Chronist 2007 durch aufschlussreiche Beobachtungen an aktuellen Polit-Szenarien, wie sie in den Plots der Massenkultur von Kino und Roman imaginiert werden. Die Forderung nach einer neuen Ernsthaftigkeit und einer Kritik der Ironie als verbindliche Generallinie der Literatur nach den New Yorker Anschlägen lehnte der Vordenker einer neuen deutschen Leichtigkeit und Lesbarkeit ab - trotz seiner Vorbehalte gegen die "Hybris der Ironie", die sich in Harald Schmidt als Galionsfigur einer Generation und Epoche zeige. Als Kulturkritiker zeigt sich der Schriftsteller und Dichter auch bei seiner Suche nach neuen Eliten. Angeklagt wird dabei die "Medienrummeldemokratie als kaum verkappte Diktatur der Gaußschen Glockenkurve, vulgo: des Proletariats."

Einige Aufsätze widmen sich den genuin literaturtheoretischen Fragen nach Standards guter Romane respektive guter Lyrik. Das gemeinsam mit drei Kollegen verfasste Manifest zum Relevanten Realismus, das keines sein wollte (sondern nur von der Redaktion der "ZEIT" als solches betitelt wurde), wird auch beim heutigen Lesen in seinen schwammigen Leitbegriffen nicht überzeugender. Freilich finden sich hier in einigen Fußnoten akzeptable Konkretisierungen dieser Leitbegriffe. So etwa, wenn er nachträglich seine Kriterien literarischer Relevanz definiert: "Relevant ist ein Buch, wenn man seine Lektüre nicht dort unterbrechen kann, wo man es geplant hat. Wenn es in seinem Verlauf selbst für professionelle Leser nicht zu berechnen ist und also nicht durch Querlesen zu bewältigen. Wenn man davon zu Erkenntnissen genötigt wird, die man gar nicht haben wollte. [...] Wenn man sich noch nach Jahren, da die Details des Plots längst vergessen sind, an das Gefühl erinnert, von dem man während der Lektüre ergriffen wurde."

In der guten Tradition seiner formbewussten Lyrikbetrachtungen aus dem Vorgängerband sucht Politycki immer noch "nach einem Gedicht, auf das man stolz sein kann". Fündig wird er bei Wolf Wondratschek als Männerdichter, aber auch bei weniger gängigen Poeten wie Hellmuth Opitz, Rudolf Bussmann und Volker Sommer. Sein Kommentar gerät dem Liebhaber von wortkünstlerischer Artistik und Witz zur schlüssigen Polemik gegen eine weit verbreitete Thesenlyrik, die nicht aus starken Bildern oder Rhythmen entstehe.

Ebenfalls einen Faden seiner früheren Essays nimmt die Suche nach einer genuin europäischen Ästhetik auf, die sich gegen die Hegemonie der amerikanischen Literatur und ihrer Creative-Writing-Schablonen wendet. Besonders wertvoll ist hier erneut der aktuelle ausführliche Kommentar zum Essay von 1998, denn hier liefert der Poetologe acht Kriterien (s)einer europäischen Ästhetik als Alternative zum Creative-Writing-Modell. Sie reichen von der "Liebe zum Detail statt zum Plot" über die Mehrfachcodierung und eine "indirekte Befriedigung von Erwartungen statt direkter" bis zum "Stil statt bloßer Verwendung von Wörtern zugunsten von Inhalten".

Ein selbstreflexives medienhistorisches Kapitel über "Autorschaft Online" widmet sich geistreich den technischen Aprioris des Schreibens. Wie schnell Lust und Last des Entdeckens von neuen Internet-Formen, neuen Rechner oder Software obsolet werden, notiert nicht nur der Autor in seinen Selbstkommentaren, sondern auch der Leser der älteren Essays, die trotz ihrer Datierung schöne Einsichten, etwa in die Ästhetik der computerisierten Schreiboberflächen, festhalten. Den Herausforderungen und Abgründen neuer Ko-Produktionsmethoden von Dichtung stellte sich der Romancier schon früh, als er für die ZDF-Kultursendung "Aspekte" sein Romanprojekt "Ein Mann von vierzig Jahren" online und unter Publikumsbeteiligung betrieb. Hieraus resultieren produktionsästhetische Beobachtungen zu den Befeuerungen und Lähmungen schriftstellerischer Einbildungskraft durch Fernseh- und Internet-Einmischungen.

Politycki als großer Reisender, der 2001 einen ganzen Band mit Reisegeschichten publizierte ("Das Schweigen am anderen Ende des Rüssels"), berichtet nun Berauschendes wie Beängstigendes aus dem städtebaulichen Entwicklungsfieber der Megalopolis von Shanghai und dem dahinter lauernden Größenwahn. Als Berliner liest man weniger gern seinen Kommentar hierzu in Form eines Vergleichs mit der deutschen Hauptstadt, in der er vorwiegend "Wahrzeichen der Sterilität", eine "Allegorie des Stillstands" und die "Ödnis mühsam zusammengewucherter Mittelstädte" zu sehen vermag.

Eine so anekdotische wie enthusiastische Lobeshymne singt der Essayist auf den realistischen Maler alltäglicher Motive Johannes Nawrath. Dessen Strandkorbbild schmückt auch den Schutzumschlag des edel gebundenen großformatigen Bandes. Am Großformat sowie dem für einen Sammelband publizistischer Stellungnahmen eher untypischen Hardcover und an der umfangreichen Selbstkommentierung, die vielleicht bei einem Rückblick über einige Jahrzehnte angemessener wäre, manifestiert sich ein Anspruch von Bedeutsamkeit oder Letztgültigkeit, der von den doch eher suchenden und tagesverhafteten Denkeinsätzen schwerlich eingelöst werden kann.

Lesenswert bleiben die meisten der alten Essays und ihre neuen Kommentierungen freilich allemal. Hier kann man einem klugen Zeitgenossen beim Nachdenken zuschauen. Und scharfsinniges Nachdenken bedarf der geschliffenen Formulierung. Diese kann der Leser bei diesem großen Prosaisten - der übrigens auch ein unterhaltsam witziger Lyriker in der Nachfolge Robert Gernhardts ist - in nahezu jeder Zeile erfahren.


Titelbild

Matthias Politycki: Vom Verschwinden der Dinge in der Zukunft. Bestimmte Artikel 2006-1998.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2007.
252 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455400441

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