Der Heimwerker als Avantgardist

Zum ersten Band der "gesammelten werke" von Gerhard Rühm

Von Jürgen EgyptienRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jürgen Egyptien

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Jahr 2005 startete die Ausgabe der "gesammelten werke" von Gerhard Rühm mit einem 1300 Seiten umfassenden schön gebundenen maisgelben Doppelband. Er trägt den schlichten Titel "gedichte" und versammelt diejenigen Texte Rühms, die gelesen werden können, während die zum Vortrag bestimmten Texte einem Band "auditive poesie" und die zum Anschauen bestimmten Gebilde einem Band "visuelle poesie" vorbehalten sind.

Der Band "gedichte" enthält etwa 900 Texte in 24 Abteilungen, von denen immerhin etwa 200 hier im Erstdruck erscheinen. Die meisten bisher unveröffentlichten Verse finden sich in den Abteilungen "wortspiele", "zeitungsgedichte" und "chansons". Die Abteilung "nachdichtungen" bietet jeweils vier bislang ungedruckte Übertragungen von Gedichten der modernen polnischen Autoren Konstanty Ildefons Galczynski und Miron Bialoszewski, von denen bisher nur je ein Gedicht in einer Nachdichtung Rühms erschienen war. Von den "zwölf haikus" werden elf erstmals gedruckt, bei den 30 "vier- und zweizeilern" sind es 28 und den Zyklus "dreiunddreissig triolen" hat Rühm sogar anlässlich der Vorbereitung dieses Bandes neu geschrieben. Auch unter den bereits gedruckten Gedichten finden sich viele teilweise in abweichender Gestalt, weil Gerhard Rühm sie für die Aufnahme in diese Edition überarbeitet hat. Es handelt sich also gewissermaßen um eine 'Ausgabe letzter Hand'. Der Herausgeber Michael Fisch hebt in seinem 'Editorischen Bericht' hervor, dass die Ausgabe in Zusammenarbeit mit dem Autor zustande kam und die Texte in der von ihm autorisierten Fassung bietet. Da indes die Überarbeitungsspuren nicht im Einzelnen dokumentiert sind, sondern lediglich im Anhang vermerkt werden, spricht Fisch von einer 'kommentierten Lese- und Studienausgabe'.

Die 24 Abteilungen repräsentieren jeweils bestimmte Gattungen oder Schreibtechniken. Auch hier lag in Zweifelsfällen die letzte Entscheidung über die Zuordnung bei Rühm selbst. Der Umfang der einzelnen Abteilungen schwankt stark. Die kürzesten sind die "gegenständlichen fabeln" (8 Seiten) und die "wiener lautgedichte" (10 Seiten), die längsten sind neben den "vermischten gedichten" (190 Seiten) die "chansons" (138 Seiten) und die "konkrete poesie" (116 Seiten). Innerhalb der Abteilungen dominiert eine Anordnung in der Chronologie der Entstehungsdaten. Manchmal wird diese Anordnung zugunsten einer sinnvolleren Gruppierung nach inhaltlichen oder formalen Kriterien durchbrochen. Dass Abgrenzungen nicht immer leicht zu ziehen sind, thematisert Rühm selbst in seiner Nachbemerkung zur Rubrik der Lautgedichte. Er versteht unter Lautgedichten "eine konsequent asemantische dichtung", bei der die einzelnen Phoneme, "frei oder einem konzept folgend, nach klangrhythmischen gesichtspunkten kombiniert werden können." Als Kriterium für die Aufnahme in diesen Band nennt Rühm die Möglichkeit, die Texte zu lesen. Unter den aufgenommenen Beispielen befinden sich einige aus einer Säule von einzelnen Buchstaben oder aus reinen Konsonantenfolgen bestehende Lautgedichte, bei denen meines Erachtens die angemessene Rezeption allein in Vortragsform Sinn macht. Rühms Begründung für ihre Berücksichtigung, es "sollte das genre der lautdichtung hier nicht ganz fehlen", überzeugt daher nicht und verwässert ein wenig das editorische Konzept.

Ansonsten sind die elf "Erläuterungen des Autors zu Textgruppen und einzelnen Texten" eine dankenswerte Einführung in die Grundlagen von Rühms poetologischem Denken, in spezifische produktionsästhetische Verfahren und gelegentlich in literaturgeschichtliche Kontexte der Wiener Gruppe.

Die "gedichte" stellen einen ausgezeichneten Überblick über Rühms Schaffen auf dem Gebiet der 'lesbaren Gedichte' dar und präsentieren sie in einer ansprechenden großzügigen Gestaltung. Die Bibliografie mit den wichtigsten selbstständigen Publikationen Rühms, die Drucknachweise und knappen Kommentare bilden eine solide Grundlage für eine literaturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk eines der profiliertesten Vertreter der Konkreten Poesie. Sie lassen auch Rühms Individualität deutlicher hervortreten. Das geschieht allerdings nicht immer zu seinen Gunsten. Wenn man Rühms Werk in so massierter Form rezipiert, drängt sich einem - besonders im Vergleich mit Ernst Jandl - der Eindruck einer gewissen Humorlosigkeit auf. Sicher, dass Rühm nicht gänzlich humorlos ist, zeigen - wenngleich wenige - Beispiele wie die Parodie auf Johann Wolfgang von Goethes "Erlkönig" mit dem Titel "wie man im hawelka klassiker liest", das ein oder andere unter den "wiener dialektgedichten" wie das "i hob a so a hamwe" über einen "ambbudiaddn fuas" (amputierten Fuß) oder die witzigen Streitreden zwischen aufeinander angewiesenen Dingen in den "gegenständlichen fabeln". Allerdings ist nicht zu übersehen, dass sich seine 'humorigen Einfälle' auf die Gebiete des Fäkalen und Vulgären konzentrieren. Und da muss man nun sagen, dass diese Art von Humor einen fast durchgehend eher peinlich berührt. Was Rühm als Bruch von (klein-)bürgerlichen Tabus im Umgang mit Sexualität und Fäkalien mit dem Mittel des Witzes inszeniert, entspringt selbst wohl mehr einem spießig-kleinbürgerlichen Spaß am Unappetitlichen und Vulgären - wie es im Übrigen in der österreichischen Gegenwartsliteratur nicht ganz selten ist. Daran vermag auch eine denkbare Alibi-Behauptung wie die, Rühms "blumenstück" habe doch einen sittlichen Skandal ausgelöst, nichts zu ändern. Der scheinbare Tabubruch ist hier nichts anderes als die Maske einer im Grunde recht infantilen Lust.

Der Eindruck einer gewissen Humorlosigkeit stimmt zu dem einer manchmal leicht beamtenhaft wirkenden Penibilität. Das mag auch daran liegen, dass die bloße Fülle des Textmaterials unübersehbar macht, wie vieles in der Konkreten Poesie einer Bastelarbeit nicht unähnlich war. Das tritt naturgemäß bei den Anagrammen besonders zutage, deren Ergebnisse über den Moment ihrer lustvollen Herstellung hinaus eher selten haltbar sind. Aktueller wirkt demgegenüber etwa ein Gebilde wie das "interpunktionsgedicht", das Techniken des SMS-Schreibens zu antizipieren scheint.


Titelbild

Gerhard Rühm: Gedichte. Gesammelte Werke Band 1 (2 Bände).
Parthas Verlag, Berlin 2005.
1.300 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3936324417

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