Die Geschichte sind eigentlich Geschichten

Dirk Niefangers Standardwerk zum frühneuzeitlichen Geschichtsdrama

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des 15. Jahrhunderts war ein zeitgeschichtlich interessiertes politisches Trauerspiel noch eine solche Seltenheit, dass Jacob Locher, genannt Philomusus (1471-1528), der ,Vater des humanistischen Dramas' in Deutschland, sich in der Vorrede zu einer Aufführung seiner "Tragedia de Thurcis et Suldano" ("Tragödie von den Türken und vom Sultan" (1497) an der noch sehr jungen Freiburger Universität ausdrücklich rechtfertigen zu müssen glaubte.

"Gerunzelter Stirn und verfinstertem Blick" der gelehrten Versammlung zum Trotz wolle er "eine bisher bei uns Deutschen ungebräuchliche Dichtungsgattung eröffnen", sagte Locher: "ein Bühnen- und Schauspiel, bei dem berühmteste Personen auftreten", nach "Art der Tragiker", aber ohne Verse und Pathos, sondern strikt auf die Tugend orientiert, "den Knaben als Belehrung, den Jünglingen als Lebensnorm und den Alten als glückliche Erholung und ersehnte Ruhe. Ich möchte eine nützliche Dichtung vortragen."

Eine weltliche Sache in "einem sehr vergnüglichen Schauspiel" vorzutragen, war neu. Nicht religiöse Erbauung, sondern politische Agitation war das primäre Ziel: der Aufruf an die "Völker Europas", zu den Waffen zu greifen, "damit wir den Ruhm unseres Namens und das Ansehen dessen, den wir bekennen, an den grausamen Feinden rächen"; ein Aufruf also zu einem nur vordergründig religiös motivierten Feldzug gegen das expandierende Osmanische Reich, das zu diesem Zeitpunkt bereits den gesamten Balkan unterworfen hatte.

Zwei Jahre vor dem Türkenkriegs-Drama hatte Locher bereits eine dialogische "Historia de rege Franciae" ("Geschichte vom französischen König") vorgelegt, die den gescheiterten Italien-Feldzug des französischen Königs Karl VIII. zum Thema hatte. Der Feldzug fand 1494/95 statt, war also ein politisch bedeutsames Ereignis der Gegenwartsgeschichte. Mit der "Tragedia de Thurcis et Suldano", einem zeitgeschichtlichen Stück, das die prosaische Historia mit der tragischen Form der Senecaischen "Octavia" verband, die Locher 1520 edieren sollte, beginnt die Geschichte des historischen Dramas in Deutschland. Sie ist noch nicht zu Ende.

Dass die Gattung des Geschichtsdramas in Deutschland mehr als 500 Jahre alt sei, wurde noch vor wenigen Jahrzehnten geleugnet. Bis weit in die 1980er-Jahre hinein galt Friedrich Sengles Buch über "das deutsche Geschichtsdrama", mit dem er 1942 habilitiert wurde und das 1952 in einer politisch korrigierten Fassung erstmals im Druck erschien, als selten hinterfragtes Standardwerk. Sengles Untersuchung war jedoch einseitig an dem Paradigma "Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand" orientiert und stand selbst im Bann der historistischen Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts, so dass vor dem deutschen Sturm und Drang entstandene Geschichtsdramen ausgeblendet blieben; ebenso natürlich die Geschichtsdramatik nach 1945, die nicht nur deshalb nicht vorkam, weil sie nach der Erarbeitung der Untersuchung entstanden ist, sondern auch andernfalls nicht vorgekommen wäre, weil sie von dem darin entwickelten Gattungsbegriff in der Tat nicht mehr abgedeckt wurde. Sengle ging davon aus, dass es ein Geschichtsdrama erst geben konnte, nachdem sich der Kollektivsingular "Geschichte" durchgesetzt habe und diese als Folge von Individualereignissen, die auf ein prozessuales Geschichtsganzes zu beziehen sind, verstanden wurde. Festgemacht wurde dies nicht an den Dramentexten selbst, sondern im Wesentlichen am Geschichtsbewusstsein des jeweiligen Autors. Da der Begriff des Geschichtsdramas bei Sengle historistisch definiert wurde, war er nur auf Dramen des späten 18. und des 19. Jahrhunderts zu beziehen.

Nun gab es augenscheinlich schon vor 1773, als "Götz von Berlichingen" erschien, Dramen, die schon immer als Geschichtsdramen anerkannt waren (zum Beispiel Shakespeares "Histories"), und es entstanden auch nach 1945 Dramen, die wahrscheinlich von allen Zeitgenossen ohne Zögern als "Geschichtsdramen" anerkannt werden (man denke etwa an Heiner Müller), ohne dass sie von Sengles Gattungsbegriff noch erfasst werden würden. Es ist also klar, dass Sengles Gattungsbegriff verabschiedet werden musste; verwunderlich ist nur, dass es so lange dauerte. In einzelnen Aufsätzen wurde diese Verabschiedung bereits seit den 1980er-Jahren vorbereitet. Nahezu zeitgleich erschienen zwei Monografien, die das Geschichtsdrama vor und nach seiner von Sengle zugebilligten Seinsdauer behandeln: Ingo Breuer betonte in seiner 2004 veröffentlichten Untersuchung des "deutschsprachigen Geschichtsdramas seit Brecht", dass das Geschichtsdrama keine wesensmäßig bestimmbare Gattung sei, sondern sich ausschließlich durch "Signale für die Geschichtlichkeit des Dargestellten" auszeichne, also der Historiografie ähnelnde "Verfahren" aufweise, die intertextuell auf einen jeweils vorgegebenen Geschichtsdiskurs referieren ("mediatisierte Geschichte"). Im Jahre 2005 erschien Dirk Niefangers Untersuchung über "Das Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit", die mit einer pragmatischen "Arbeitsdefinition" aufwartet, die in einer von Niefanger andernorts publizierten Zusammenfassung so lautet: "Theatertexte sind als Geschichtsdramen zu analysieren, wenn sie Zeichen enthalten, die eine historische Authentizität des Dramengeschehens setzen. Das heißt natürlich nicht, dass die Geschichtsdramen die Geschichte ,objektiv' abbilden. Sie müssen lediglich ,Authentizität' behaupten. Die Handlung sollte zudem als nicht nur irgendwie vergangenes, sondern als historisches Geschehen identifizierbar werden. Voraussetzung für ein ,Geschichtsdrama' ist ebenfalls, dass das Geschehen auf der Bühne nicht bloß als von temporärer Bedeutung vorgestellt wird und der Handlungsbereich des Dramas (auch) in der politisch-gesellschaftlichen Öffentlichkeit liegt bzw. für diese relevant wird. Außerdem kann davon ausgegangen werden, dass ein ,Geschichtsdrama' historiographische Textverfahren des jeweils geltenden Geschichtsdiskurses variierend übernimmt."

Es ist natürlich kein Zufall, dass die Definitionen des Geschichtsdramas sich ähneln, gleichviel ob sie aus der Beschäftigung mit modernen und postmodernen Texten erwuchsen oder aus der mit frühneuzeitlichen. Die letzte vorbürgerliche und die erste nachbürgerliche Epoche entsprechen sich in mancherlei Hinsicht. Vor allem aber hat die Postmoderne und ihr Geschichtsdiskurs die Sensibilität für die Pluralität und Textualität von Geschichte erhöht und so das vormoderne Geschichtsdrama als solches überhaupt erst wieder wahrnehmbar gemacht. Denn so vielfältig und verschiedenartig das frühneuzeitliche Geschichtsdrama auch ausfällt, in einem Punkt kommen fast alle Stücke überein: Sie geben - anders als historistische Geschichtsdramen des 18. und 19. Jahrhunderts - nie vor, auf das Ereignis selbst zu referieren, sondern sie beziehen sich auf dessen mediale Überlieferung, was häufig auch explizit thematisiert wird.

Der Vorteil der durch den aktuellen Geschichtsdiskurs modifizierten Definitionen ist, dass sie kategorial weit genug gefasst sind, um die verschiedensten historischen Ausprägungen der Gattung des "Geschichtsdramas" zu erfassen. Anders als der historistische Diskurs (der paradoxerweise ja für seine eigenen Definitionen überzeitliche Gültigkeit behauptete) sind Definitionen wie die von Niefanger offen genug für historische Spezifizierungen. Dies aber ist zugleich in literaturwissenschaftlicher Hinsicht ihr Manko. Die Gattung wird nicht durch literarische oder ästhetische Eigenschaften definiert, sondern ausschließlich kommunikationslogisch. Pointiert gesagt läuft die Definition des Geschichtsdramas neuerdings auf den Satz hinaus: "Geschichtsdrama ist, was so tut, als sei es Geschichtsdrama; und zwar solange, wie man es glaubt." Ich glaube, es gibt zur Zeit keine bessere Antwort auf die Frage nach der Gattung "Geschichtsdrama". Immerhin sollte man das Problem aber im Auge behalten.

Niefangers Untersuchung enthält neben dem Abschnitt zur Theorie des Geschichtsdramas einen Reigen von Untersuchungen zur "Geschichte des Geschichtsdramas in der Frühen Neuzeit", angefangen bei Locher und endend mit einem Ausblick auf Goethes "Götz von Berlichingen". Während die Humanisten wie Locher, Schottennius, Naogorgus und Frischlin im Bereich der Zeitgeschichte blieben oder historische Argumente politisch einsetzten, taucht schon mit Hans Sachs ein Dramatiker auf, der ein Bewusstsein dafür mitbrachte, dass er unter anderem auch Geschichtsdramen fabrizierte: "war histori allegirn", nannte er dies, wenn er Stoffe dramatisierte, die "wahrhaft geschehen und nit erdacht" waren. Im 17. Jahrhundert gehorchten die Geschichtsdramen meistens entweder dem consolatio-Modell oder dem prudentia-Modell, das heißt sie trösteten den Menschen über die Vergänglichkeit menschlicher Sachen hinweg oder belehrten ihn mit exemplarischen Ereignissen, wie in der Welt zu bestehen sei. Die bekanntesten Autoren deutscher Sprache, die für diese beiden Konzepte standen, waren in jener Zeit Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein, von denen jeweils zwei Stücke ("Carolus Stuardus" und "Catharina von Georgien" beziehungsweise "Agrippina" und "Sophonisbe") von Niefanger ausführlich analysiert werden. Besonders betont er die Ambiguität der Geschichtsrepräsentation bei fast allen Dramatikern des 17. Jahrhunderts, die sich im Wesentlichen der Einsicht in die Uneindeutigkeit jeder menschlichen Auslegung von Geschichte verdankt. Dass es eine Wahrheit der Geschichte gebe, bezweifelten diese prämodernen Autoren genauso wie ihre postmodernen Nachfolger.

Aus der Übergangszeit um 1700 werden Stücke von Christian Weise, Barthold Feind, Christian Reuter, Johann Christian Günther und Friedrich Christian Bressand, freilich etwas kursorischer, besprochen. Für die Jahrzehnte um 1700 ist es bezeichnend, dass sich die ,barocke' Vorstellung von einer vorherbestimmten, von Gott abhängigen Historie mit den aufklärerischen Entwürfen einer individuell beeinflussbaren Ereignisgeschichte reibt. Dadurch entstehen bei den Autoren dieser Übergangsepoche häufig polyphone Dramen, die spätere Interpreten zweifeln ließen, wer denn jetzt eigentlich Recht habe und zu bemitleiden sei, zum Beispiel in Weises "Masaniello": "das Volk, oder der Adel"? - so fragte etwa Karl Lessing seinen Bruder Gotthold Ephraim. Doch war dies ein typisches Missverständnis eines späteren Aufklärers, dem es wie seinem Bruder auf das Erregen von Mitleid als Hauptzweck des Trauerspiels ankam. Die spätbarocke und frühaufklärerische Dramatik um 1700 interessierte sich dafür leidlich wenig. Weises Dramen zeichnen sich durch eine Objektivität aus, die man leicht mit Mitleidslosigkeit verwechseln konnte. Weise konstatierte zunächst einmal, dass es einen Krieg zwischen Obrigkeit und Untertanen gibt und versuchte ihn dramatisch darzustellen, ohne einer Partei allein durch die Präsentation schon Recht zu geben. Überdies muss betont werden, dass in Weises Dramen regelmäßig mehr als nur zwei Parteien an der Handlung beteiligt sind, so dass Karl Lessings Vorwurf eigentlich hätte lauten müssen: Man wisse gar nicht, ob im "Masaniello" der Vizekönig, die radikale oder die gemäßigte Adelsfraktion, der Erzbischof oder die einfachen Fischer, die Revolutionäre um Masaniello oder die Banditen um Perrone, die galanten Mönche oder die fröhlichen Bürgerfrauen Recht haben.

Im Folgenden analysiert Niefanger die Geschichtsdramen von Gottsched ("Parisische Bluthochzeit" und "Agis, König von Sparta"), Lessings "Samuel Henzi", der erstmals im Kontext der "Briefe" von 1753 untersucht wird, sowie die "Hermann"-Bardiete von Klopstock. Zwischen den Fallbeispielen werden die historischen und diskursiven Kontexte präsentiert, in denen sich die Geschichtsdramen behaupten mussten. Niefangers Aufmerksamkeit gilt durchgehend dem Verhältnis der Dramen zu den jeweiligen historiografischen Diskursen, den Reflexionen über den Geltungsbereich historischer Wahrheit oder Wahrheiten, sowie der jeweiligen Art von Repräsentation von Geschichtserzählungen. Ausdrücklich werden die Stücke in ihrem jeweiligen Kontext thematisiert, "um die Medialität der Historie im Geschichtsdiskurs der Zeit und in den Geschichtsdramen selbst in eine Beziehung zu setzen." Besonders diffizil ist dies im Kontext der "doctrine classique" des 18. Jahrhunderts, das früher gern als besonders geschichtsfeindlich gesehen wurde. Damals entstand bekanntlich ein neues Zeitbewusstsein, das die Geschichte als prinzipiell zukünftig offen verstand und eine neue Sprechweise über Geschichte hervorbrachte. Aber auch hier bewährte sich die frühneuzeitliche Sensibilität für die verschiedenen "Gesichts-Punkte" (Bodmer), von denen historisches Geschehen beurteilt werden kann. Im Zedler heißt es dazu lapidar: "Die Historie ist also nichts anderes als Erfahrungen, welche wir von anderen bekommen, und wegen ihres Zeugnisses davor halten, daß sie wirklich sind". Fontenelle soll einmal gesagt haben, die Geschichte sei nichts als eine "fable convenue".

Den Abschluss der Analysereihe bildet ein "Ausblick" auf Goethes "Götz", der ebenso gut als letztes Beispiel des frühneuzeitlichen Geschichtsdramas gelesen werden kann wie als erstes Beispiel des neuen historistisch inspirierten Geschichtsdramas. Auch hier gibt es die "Pluralität der Geschichte", die der gemeinsame Nenner aller frühneuzeitlichen Geschichtsdramen zu sein scheint. Das heißt, es geht nicht um eine möglichst authentische Darstellung der Geschichte, sondern um mögliche historische Wahrheiten. Auch die stärkere didaktische Verpflichtung des Dramas im 18. Jahrhundert führte zunächst nicht dazu, die Medialität der Geschichte zu leugnen und ihre Erzählung auf eine singularische Darstellung zu reduzieren. Vielmehr bleibt es bei der Offenlegung der historischen Vermittlungswege und der Reflexion literarischer Stilisierungen. Schon der erste Satz Metzlers im "Götz" thematisiert diese Mittelbarkeit: "Erzähl das noch einmal vom Berlichingen!" Und diese Erzählungen vom Berlichingen sind nicht identisch mit der authentischen Geschichte der Person Gottfrieds. Immerhin wird das Problem der Götz allmählich abhanden kommenden Individualität auf eine Weise verhandelt, die in frühneuzeitlichen Dramen sonst nicht vorkommt, was den "Götz" moderner erscheinen lässt.

Das Credo des frühneuzeitlichen Geschichtsdramas sei: "Die Geschichte ist nicht greifbar! Nicht in der Historiografie, nicht in der Literatur und schon gar nicht im Drama. Sie ist hier weder als Kollektivsingular, noch als authentischer Erfahrungsraum verfügbar. Die Geschichte erscheint bestenfalls in perspektivierten Geschichten. Sie tritt nicht als ,objektive', sondern als different vermittelte in Erscheinung." Dies in äußerst klarer und anschaulicher Sprache beschrieben und an zahlreichen Texten aus der Frühen Neuzeit exemplifiziert zu haben, ist ein großes Verdienst von Niefangers Studie, deren schlichter Titel schon anzeigt, was sie ist: ein Standardwerk.


Titelbild

Dirk Niefanger: Geschichtsdrama der Frühen Neuzeit 1495-1773.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2005.
440 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-10: 3484181745

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