Rezept mit Chilischoten
Zu Robert Menasses Roman "Don Juan de la Mancha oder Die Erziehung der Lust"
Von Matthias Prangel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSchon beim Titel, der Ambivalenzempfinden gleich doppelt auslöst, ist inne zu halten: Don Juan und Don Quixotte sind hier im Mixtum compositum vom Don Juan de la Mancha zu einer einzigen Person vereinigt. Die große, archetypische Figur des nimmersatten Verführers und Frauenhelden mit ihren seit dem 17. Jahrhundert immer neuen literarischen Ausdeutungen und der ingeniöse selbsternannte Ritter von der traurigen Gestalt, der verarmte Junker und ebenso nimmersatte Kämpfer für eine bessere Welt von Frieden, Glück und Ehrlichkeit werden miteinander verschmolzen.
Beide sind ja auch auf ihre Weise strebend bemüht, beide jagen lebenslang ihrer Fiktion vom Glück hinterher, ihre Begierde ständig erneuernd. Doch beide sind auch unerlösbar in diesem Leben, beide treten als Sisyphos nach der Maßgabe des Albert Camus auf. Sodann die zweite Hälfte des Titels: Auch hier gibt es einen intertextuellen Bezug, diesmal, auf kaum niedrigerem Niveau, zu Flauberts "L'Education Sentimentale" und deren Thematik von privater und politischer Desillusionierung, vom Scheitern der Liebe und dem der Revolutionshoffnungen des 19. Jahrhunderts. Dazu beschäftigt die nachdenklich machende, wenn wohl auch unentscheidbare Frage, ob denn in jenem Titelteil ein Genitivus subjectivus oder objectivus zu lesen sei, ob die Lust da erzieht oder ob sie erzogen wird, ob sie uns oder wir sie. Welch gewaltige literarische Tradition! Welch gewaltiger Anspruch! Kann dem überhaupt entsprochen werden? Robert Menasse kann. Eben auf seine Weise. Und die ist vermutlich die einzige, die überhaupt dazu tauglich ist, nämlich die virtuose Verquickung von Scherz, Satire, Ironie und tieferer Bedeutung, die federhafte Leichtigkeit des Seins und deren Unerträglichkeit, das kalauernde Ausprobieren der Sprache und die aus Erfahrung geborene, ernste philosophische Einsicht.
Und dann der erste Satz des Buches, der nicht unzitiert bleiben darf: "Die Schönheit und Weisheit des Zölibats verstand ich zum ersten Mal, als Christa Chili-Schoten zwischen den Händen zerrieb, mich danach masturbierte und schließlich wünschte, dass ich sie - um es mit ihren Worten zu sagen - in den Arsch ficke."
Hat ein Stück Literatur je mit solch einem Pistolenknalleffekt, ja mit solch einem Urknall eingesetzt? Ist man je von einem Autor mit solcher Geschwindigkeit aufgeweckt und zur Sache geführt worden? Und das nicht etwa nur oder vor allem wegen der unbestrittenen Pornografieanteiligkeit des Satzes. Dass uns der Autor nicht mit einem biederen Porno traktieren würde, das weiß man bei Menasse ohnehin, und man wird in diesem Wissen auch sogleich bestätigt, wenn man über den griechischen Ursprung dieser oder doch einer ähnlichen Sexualpraktik belehrt wird und sich unvermittelt in die mit aphoristischer Prägnanz vorgetragenen humorigen, doch immer auch grundsätzlichen Reflexionen des Ich-Erzählers hineingezogen sieht.
Weit über vordergründige Effekthascherei hinaus bildet der Eingangssatz in Kombination mit dem zweiteiligen Buchtitel das Programm, ja eigentlich schon die Kürzestfassung des Ganzen. Denn um dies wird es gehen: um die irgendwann tatsächlich erlebte oder nur geträumte und immer wieder, lebenslang wie eine zugleich rückwärts und vorwärts gewandte Fata morgana erinnerte Lust ("man kann zwar die Lust verlieren, aber man kann sie nicht vergessen"); um deren langsam, aber sicheres Erschlaffen bei dennoch andauernder, in die extremsten sexuellen Exzesse sich flüchtender Begierde, die der verflossenen Lusterfahrung unermüdlich und aussichtslos nachstellt; um die schiere Unmöglichkeit der Erlösung aus dem zwanghaften Zirkel von Lust und Begierde; um den Zusammenhang zwischen Lust und Schmerz; um die Liebe, die sich dabei, wie Menasse meint, zwangsläufig aus dem gemeinsamen Ehebett in getrennte Schlafzimmer stiehlt; um die Kurzschließung von all dem nicht nur mit der singulären Biografie des Romanhelden, sondern mit der geistigen Verfassung gleich einer ganzen Generation.
Sisyphos wälzt seinen Stein da immer wieder den Berg empor und muss das, offensichtlich innerem mehr als äußerem Antrieb folgend, tun, um beim erleichterten Abstieg ins Tal letztlich doch nur in den sehr partiellen Genuss seiner wieder einmal erwiesenen Lebens-/Liebestüchtigkeit zu gelangen, in den Genuss eines erbrachten Nachweises, der, unten angelangt, sich bereits verflüchtigt hat, keine Aktualität mehr besitzt und der erneuten Bestätigung bedarf. Ein Ende in diesem Leben, die Erlösung aus der Fron nicht in Sicht, der Absprung in eine andere, metaphysische Dimension heutzutage kaum mehr opportun.
Doch wer ist Don Juan de la Mancha bei Menasse? Natürlich - denn wie hätten seine Originale sonst auch überleben können - ist er aus aktuellstem Stoff gemacht. Er heißt Nathan, ist genau so alt wie sein Autor und ein Vertreter der in den 1970er- und beginnenden 1980er-Jahren gleich ihm wider den Stachel des Establishments Löckenden. Die Ehe der Eltern wurde schon geschieden, als er noch Kind war. Seine Familie ist ein einziges Patchwork, er lebt in Wien, ist Journalist im Ressort Leben und ist ein Liebhaber mit eher zaghaft retardiertem Beginn, der sich dann aber bei faktisch schwindender Lust von der einen in die nächste Beziehung, von der einen Begierde in die nächste hangelt - dabei immer auf der Suche nach dem einen Ziel des Genusses der Lust. Die aber scheint sich um so weiter zu entfernen, je mehr er sich müht. Und eben wegen dieses Unbehagens sitzt er im Zimmer seiner Therapeutin Hannah Singer, die ihn auffordert aufzuschreiben, was ihn alles bis zu diesem Punkt gebracht hat. Sie vermutet schnell, dass es nicht so sehr eine Sucht nach Befriedigung als vielmehr jene nach Erlösung sei, die ihn zu ihr treibt. Zwar gibt er sich zunächst störrisch und unwillig, seine Kindheit durchzuarbeiten, wo er doch nur sein "Alter in den Griff bekommen" wolle. Doch schließlich schreibt er wohl doch oder erzählt oder auch beides (man vermag das nicht so recht zu trennen) sein Leben. Hannah ist unaufdringlich, niemals im Zentrum, in guter Therapeutenmanier meldet sie sich nur hier und dort zu Wort, bleibt aber dennoch omnipräsent.
So also sieht der Erzählrahmen des Buches aus. Und in ihn hinein erzählt die Geschichte Nathans, zwar alles in allem von einem Anfang zu einem Ende, von der Kindheit bis ins Jahr 2006/07. Doch nicht als Schritt für Schritt voranschreitende Chronik, sondern in zeitlich bunt gemischter Folge von Rückblicken und Vorgriffen, das Ganze in 83 Abschnitten zwischen einer Zeile nur und 16 Seiten Länge. Da ist der Lebens- und Liebesregeln verkündende Genussmensch als Vater, Journalist gleich Nathan, dem das eheliche Einerlei schon schnell zu mühselig erscheint und der sich stattdessen ganz ungebunden und zwanglos dem schönen Geschlecht in seiner Gesamtheit verschreibt, um den angeblich schönsten aller Tode in den Armen einer seiner vielen Erwerbungen stirbt. Eine Mutter sodann, die sich, brüskiert und gekränkt, wie sie sich von ihrem Mann fühlt, gleichwohl nicht verkriecht, sondern das eine um das andere Mal in die Offensive geht. Der aber der eine ihrer neuen Männer umgebracht wird, der andere beim Sturz vom Pferd zu Tode kommt und von denen ein dritter sich untersteht, seinen Sohn zu ohrfeigen, womit er weder als Ehemann, noch als Ersatzvater für Nathan noch in Frage kommen kann.
Nach diesem Modell von Vater und Mutter verlaufen die Dinge denn auch bei Nathan. Von einer Helga zu einer Anne, die er ehelichen möchte, aber dann doch lieber die Martina nimmt, von der sich zu trennen er schon gleich nach der Eheschließung die nötigen Vorbereitungen trifft. Von dort geht es irgendwann zu Beate, der aktuell gültigen Gemahlin, doch auch zu Niki, die die Lust als Fontäne aus sich versprüht wie andere einen Urinstrahl. Dann ist da der Alice-Eklat und, nicht zu vergessen, die nebeneheliche Dauerbeziehung mit Christa im Hotel 'Spinne', mit der das Buch einsetzt und genauso skurril aufhört. Kurz, es will kein Ende nehmen mit der Begierde auf Lust. Und irgendwann dann die Erkenntnis Nathans: "Ich hatte ideologisch korrekten Beischlaf studiert, aber nun gab es weit und breit keine, die mit mir im Bett über Entfremdung diskutieren, sich von gesellschaftlichen Zwängen befreien wollte. Bei der Arbeit lernte ich nur noch Frauen kennen, die Lust wollten. Liebe. Unter diesen Voraussetzungen erst recht Lust. Glück. [...] So geil wie die neuen Pornos und zugleich so romantisch wie die alten Groschenhefte. Sie setzten sich auf Schwänze, so wie heute Telefone auf Ladestationen sitzen."
Ist Nathan der in die Jahre gekommene Spät-68er, der nun beides - sein fehlgeleitetes doppeltes Befreiungsengagement von anno dazumal, das die Weltrevolution zur unveräußerlichen Voraussetzung für die Penetration erhob, und die sich in ihm abschwächende Lustempfindung bei gesteigerter Lustsehnsucht bekümmert in Augenschein nimmt? Ist das ein Altmännerroman, wie man schon vereinzelt vernehmen konnte? Beileibe nicht! Ein Roman vielmehr vom Leben, von den Veränderungen und Entwicklungen, unser aller sinnlicher und psychischer Grundausstattung, von der conditio humana schlechthin, hier vor allem am Manne exemplifiziert - doch für die Frau, wenn auch natürlich mit Differenzen, wie man auch Sisyphos schließlich nicht nur als Mann, sondern auch als Frau sich zu denken hat. Und das alles ohne nur einen Anflug von Rührseligkeit, Sentimentalität, Altmännereitelkeit, Jammerlappigkeit, Muffigkeit oder Schlüpfrigkeit. Denn bevor es dazu nur kommen könnte, ist alles bereits ironisch, satirisch unterlaufen. Es ist ein wundervoll leicht hingetupftes impressionistisches Gemälde gewissermaßen, einfallsreich frech, spritzig die Themen dieser Zeit aufnehmend, ohne sie behäbig auszuwalzen, manieristische Kabinettstückchen Selten hat der Rezensent das Zusammen von docere et delectare so genossen wie hier.
Und der Schluss? Der besteht aus einem Abschiedsrendezvous von Nathan und Christa in der 'Spinne' mit vertauschten Rollen, er als Nathalie, sie als Chris, er in Rock und Strümpfen, sie mit erigiertem Meerrettich. Technisch ist der Rahmen der Erzählung geschlossen. Doch ist das auch ein Schluss als Ende aller Begierde und Lust? Wohl kaum. Denn nur für Momente mag der Leser, wenn er gleich darauf im letzten Abschnitt des Buches liest: "Ich schreibe wieder für die Zeitung. Ich bin glücklich mit meiner Frau" glauben, der Moment der Erlösung, er sei für Nathan mit der Heimkehr ins ruhige Fahrwasser der ehelichen Monogamie nun doch gekommen. Der folgende Satz aber: "Man ist immer auch ein bisschen unglücklich, wenn man glücklich ist" - er lässt eher anderes vermuten. Dass die Suche nach der Lust ohne Langeweile weiter gehen wird, dass der Stein auch fernerhin gerollt werden muss. Und sollte Nathan die Biologie eines Tages im Stich lassen, so gibt es heute die Pharmazie, und sollte auch die irgendwann es nicht mehr schaffen, so gibt es, was womöglich das Wichtigste ist, noch immer die innere Bühne, das von keiner substanziellen Fleischlichkeit mehr getrübte reine Vorstellungsvermögen. Unser Lesegenuss also mag auf der letzten Seite für diesmal zuende gehen. Die Lustbegierde Nathans und aller seinesgleichen muss es damit noch längst nicht sein. Denn was ein wahrer Sisyphos ist, der springt nicht und gibt hienieden nie auf.
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