Freiheit oder Forschung?

Michael Pauen enttarnt in seiner Studie "Was ist der Mensch" einen vermeintlichen Widerspruch zwischen Philosophie und Hirnforschung

Von Cornelius BorckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cornelius Borck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kritiker wie Akteure der Hirnforschung verfechten oft gemeinsam die These, die rasanten Fortschritte bei der Aufklärung der Arbeitsweise des Gehirns führten zur ultimativen narzisstischen Kränkung, denn die Neurowissenschaften finden allenthalben nur naturwissenschaftlich erfassbare naturnotwendige Gesetzmäßigkeiten, wo das freie Spiel des kreativen Seelenlebens vermutet worden war. Die alteuropäischen Fundamente der metaphysischen Kategorien von Ich, Selbstbewusstsein und Freiheit erweisen sich dabei nicht nur als inkongruent mit der gegenwärtigen Forschung, vielmehr sind umgekehrt deren Ergebnisse so bestechend, dass sich ihre führenden Vertreter zusammen geschlossen haben, um das Publikum aufzurufen, endlich ein veraltetes Menschenbild über Bord zu werfen.

Was im kollektiven Akt der geistigen Autoamputation allerdings außer der vermeintlich erforderlichen psychophysischen Begradigung gewonnen werden soll, bleibt vorerst noch recht ungewiss. Immerhin ist es doch bemerkenswert, wie die zarte Empirie die Propheten der harten Naturwissenschaften verführt, ausgerechnet mit vernünftigen Argumenten für die Abschaffung des rationalen Diskurses zu streiten. Das möchte man kurios nennen, wäre hier nicht der muntere Wettstreit der Fakultäten in Gefahr, im Strudel umgelenkter Forschungsressourcen zu verstummen. (Vorerst profitieren freilich die so genannten Humanwissenschaften noch von der hitzigen Debatte, wie ja auch der letzte Versuch einer "Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften" zu einer bemerkenswerten Intensivierung geisteswissenschaftlicher Forschungen und Förderungen geführt hatte.)

In dieser Situation gebührt dem Dank und Anerkennung, der nicht nur einen kühlen Kopf bewahrt, sondern auch noch mit triftigen Argumenten zeigen kann, warum der gesunde Menschenverstand gegen alle naturforscherliche Hybris immer schon am längeren Hebel sitzt und dort auch bleiben wird, solange die moderne Wissensgesellschaft nicht den Fieberträumen ihrer Geisterklärer nachgibt. Michael Pauen ist einer der Advokaten des gesunden Menschenverstandes, und er untermauert seine Position gleichermaßen mit einer bemerkenswerten Sachkenntnis der neurowissenschaftlichen Forschungslage wie mit einer fundierten philosophischen Analyse.

Hier engagiert sich endlich einmal einer an der hierzulande so hitzig geführten Debatte, der sowohl die Ergebnisse der neuesten Studien mittels funktioneller Bildgebung kennt wie auch um die Ergiebigkeit einer sorgfältigen Rekonstruktion der Positionen im deutschen Idealismus von Kants Grundlegung über "Fichtes ursprüngliche Einsicht" bis zu Schellings Spätphilosophie weiß. Umso bemerkenswerter ist an Pauens Essay, dass er nicht einfach den Philosophen gegen den naiven Naturforscher kehrt, sondern vielmehr voller Neugierde die Einsichten und Befunde der gegenwärtigen Forschung sichtet.

Sein erster wichtiger Befund ist ein historischer: Bislang waren die vermeintlichen Kränkungen eher das Resultat von gezielten Rekonstruktionen der Nachgeborenen denn Ausdruck der Gemütslage unter den historischen Akteuren; Nietzsche und Freud zum Beispiel benutzten rhetorisch geschickt die Rede von den Kränkungen für ihre revolutionären Strategien. Die Geschichte des neuzeitlichen Wissens durchzieht zwar eine Spannung zwischen naturalistischen Erklärungen und metaphysischen Behauptungen, aber nur solche empirischen Erklärungen hatten langfristig Erfolg, die mindestens der Komplexität alltagsweltlicher Vorannahmen und menschlicher Selbstzuschreibungen gewachsen waren. Der Materialismus-Streit um die Sonderstellung des Lebens liefert hier eine instruktive Folie, denn erst als biologische Erklärungen reichhaltiger und komplexer wurden, also das Besondere belebter Prozesse zu charakterisieren vermochten, setzten sie sich gegen den Verweis auf eine metaphysische Lebenskraft durch.

Aber warum sollte, was sich hier so elegant belegen lässt, auch für den menschlichen Geist und die Konzepte von Freiheit, Selbstbewusstsein und Verantwortung gelten? Pauen stellt deshalb der wissenschaftshistorischen Skizze empirische und systematische Überlegungen an die Seite. Allein schon aus evolutionsbiologischen Gründen sollten wir davon ausgehen, dass eine so komplexe und kostspielige Investition wie die Entwicklung von menschlicher Sprache, Geist und Handlungsfähigkeit lebenswichtige Leistungen realisiert, die nicht als Epiphänomen abgetan werden können.

Der Kern von Pauens Buch liegt aber in der von Kant inspirierten philosophischen These, dass Freiheit sich nur als Selbstbestimmung fassen lässt und der Streit zwischen naturwissenschaftlicher Determination und freiem Willen deshalb in einer nutzlosen Sackgasse steckt. Freiheit zum Handeln, wie sie menschliche Gehirne aufgrund ihrer kortikalen Komplexität generieren, muss als Prozess der Selbstbestimmung gefasst werden, der empirisch beschreibbaren Gesetzmäßigkeiten folgt. Brillant und zugleich klar verständlich zeigt Pauen, wie absurd die Behauptung ist, Freiheit müsse Freiheit von der naturwissenschaftlichen Determination sein. Wie sollte sich ein nicht-determiniertes, also zufälliges Ereignis je als Ausdruck menschlicher Freiheit kennzeichnen oder erleben lassen? Unabhängig von der Frage, ob Gehirne oder die Welt im Ganzen vollständig determiniert sind, wird die empirisch beobachtbare und im Alltagsleben permanent vollzogene menschliche Selbstbestimmung offensichtlich entlang bislang nur unvollkommen verstandener neuronaler Mechanismen realisiert. Das ist der entscheidende Befund über die gegenwärtige Lage der Hirnforschung. Der vermeintliche Widerspruch zwischen Freiheit und Forschung ist eine Finte, die lediglich verdeutlicht, wie weit die Hirnforschung noch von hinreichenden und damit befriedigenden Erklärungen für komplexe Hirnleistungen entfernt ist.

Diese Schlüssigkeit ist zugleich die Schwäche von Pauens Buch - so paradox das klingen mag. Wo die Dinge so klar auf der Hand liegen, drängt sich die Frage auf, warum keiner sie sieht. Warum etwa reichert Pauen sein Argument überhaupt um empirische Befunde an, wenn dessen Kern eine logische Analyse der Struktur von Selbstbestimmung ist? Ohne gleich zu vermuten, dass Pauen seine radikale Scheidung von Genesis und Geltung, Norm und Fakt, historisch-empirischer Erklärung und philosophisch-logischem Argument vielleicht selbst für gar nicht so zwingend hält, kann man sich fragen, was Pauen eigentlich als Selbstbewusstsein verstanden wissen will, wenn er auf das Augenzuhalten als ontogenetisch zentralen Moment abhebt, um uns gleich im nächsten Satz eine "Erklärung vor Augen zu halten". In diesem Gedränge vor den Augen verwundert dann auch nicht, wenn der Philosoph von Halbtagszombies fabuliert, ohne zu bemerken, dass damit ein Beispiel für die Gleichzeitigkeit verschiedener Rationalitäten eingeführt ist, das die beanspruchte Allgemeingültigkeit philosophischer Begründungen in Frage stellt. Von hier aus entpuppt sich die Frage, warum die Philosophie des gesunden Menschenverstandes von so wenigen gehört wird, als ausgesprochen wenig trivial. Zu ihrer Beantwortung müssten die wissenschaftshistorischen Rekonstruktionen allerdings über die Illustration von Positionen in der philosophischen Debatte hinaus bis in eine Analyse der konkreten Dynamik neurowissenschaftlichen Wissens getrieben werden. Auch diese Geschichte handelte davon, dass der Geist ein Faktum und keine Fiktion ist. Aber die Natur des Geistes wird dann zu einer Geschichte mit vielen Akteuren, geschickten Händen, Geräten, Gehirnen, Gremien und ganzen Gesellschaften - ein kollektiv Gemachtes eben.


Titelbild

Michael Pauen: Was ist der Mensch? Der Streit um die Hirnforschung und ihre Konsequenzen.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
250 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783421042248

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