Hüter der literarischen Bildung

Harald Weinrich zum 80. Geburtstag

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einen besseren Auftakt hätte die Reihe "Forschungen zur romanischen Philologie", herausgegeben von Heinrich Lausberg, dem großen Rhetoriklehrer aus Münster, nicht nehmen können. 1956 erschien hier die Doktorarbeit "Das Ingenium Don Quijotes" von Harald Weinrich, um zugleich vom Ingenium ihres Verfassers zu künden, denn Weinrichs "Beitrag zur literarischen Charakterkunde" (so der Untertitel) war zugleich ein Plädoyer für eine Denkungsart, wie sie schon das Zeitalter des Barock geprägt hatte und jetzt erneut, freilich unter gewandelten politischen und historischen Vorzeichen, das künftige Denken prägen sollte: Die alteuropäische Manier, nur Freund oder Feind zu kennen, sollte abgelöst werden von einem neuen Selbstverständnis. Zwar hatte man gelernt, mein und dein zu unterscheiden, doch sann man jetzt auf Freundschaft und Eintracht, um ein Gemeinwesen zu stiften, wie es die Sage vom Goldenen Zeitalter verhieß: So sorgsam eingerichtet, dass einer jeglichen Hand die reiche Ernte köstlicher Arbeit zuteil werde. Dieses Selbstverständnis setzte die Befähigung zum Dialog voraus, zu einer Gesprächsbereitschaft selbst dann, wenn Worte zwecklos erschienen oder lange Reden gehalten werden mussten, von denen die Skeptiker sagten, dass sie ganz gut hätten unterbleiben können.

Bereits im elften Kapitel des ersten Buches seines großen Romans "Don Quijote" entwickelt der Ritter von der traurigen Gestalt dieses faszinierende Konzept eines Goldenen Zeitalters, zu dem seine ausufernd lange Rede den ersten Beitrag leistet - nicht, weil man sich nicht hätte kürzer fassen können, sondern weil die Form selbst der Verständigung dient und Kompromisse ermöglicht, die zuvor außerhalb des Erreichbaren gelegen haben. Den Zeitgenossen Konrad Adenauers fallen dazu etwa Auftritte im Deutschen Bundestag ein, die, um politische Erfolge zu zeitigen, den Abgeordneten durchaus Geduld abzunötigen wussten. Die Aufmerksamkeit des Autors, nicht aber die des Lesers, strapaziert Don Quijote anfangs mit seiner Rede über das Goldene Zeitalter, und schon hier, im ersten Buch des Romans, unterliegt Cervantes seiner Figur, die sich fortan gegen ihren Verfasser zu emanzipieren weiß, indem sie ihr "gutes Ingenium" und damit die Entfaltungsmöglichkeiten offenbart, die in ihr stecken: Statt nur das Sujet für eine Parodie des schlechten Ritterromans abzugeben, demonstriert sie, dass sie das Zeug zu einem hohen, zu einem klassischen Epos hat und somit ihren Autor zu Weltruhm führen kann.

Auch Cervantes hat dies sofort begriffen, hat erkannt, was er sich da herangezogen hat, und es ist ein intellektuelles Vergnügen und ein großes Abenteuer eigener Art, der Argumentation Harald Weinrichs zu folgen, die knapp und konzise nachweist, wie dem Autor Cervantes das "Zwielicht der Ironie" abhanden kommt, in das er seine traurige Rittergestalt zunächst getaucht hatte. War Don Quijote eingangs noch etwas "stiefväterlich" behandelt worden, so wird sich der Autor nun rasch klar über die kompositorischen Möglichkeiten, die in seiner Figur stecken: Seine Neugier am eigenen Geschöpf ist erwacht, ein anderer Geist weht fortan durch sein Werk.

Dieselbe Neugierde zeichnet auch das Werk des Romanisten und Linguisten Harald Weinrich aus, der dieser Tage 80 Jahre alt geworden ist. Und wie sein bedeutender Lehrer Heinrich Lausberg hat Weinrich es verstanden, seine Leser und Schüler von dieser Lust auf Erkenntnis anzustecken. Erst in der Kriegsgefangenschaft lernte Weinrich Französisch, erst durch diese Erfahrung begann er in der zweiten Hälfte der vierziger Jahre, sich mit den Sprachen der Romania vertraut zu machen und seine Erkenntnisse und Kenntnisse für sprachanalytische, kulturhistorische und literaturgeschichtliche Fragestellungen nutzbar zu machen. Das Wort "Ingenium" weist er gleich zu Beginn seiner Dissertation in seinem Gebrauch in den englischen, französischen und italienischen Übersetzungen des "Don Quijote" auf, und es ist dabei kein Zufall, dass er seine sprachwissenschaftlich fundierten Studien zunächst an einem literarischen Werk demonstriert, denn - so Weinrichs Überzeugung - der Rückbezug des Wissenschaftlers auf die schöne Literatur sichert dem Linguisten seine besondere sprachpflegerische Kompetenz.

Buch um Buch, Aufsatz um Aufsatz, Essay um Essay hat der vielfach geehrte Verfasser unsterblicher Standardwerke wie "Tempus. Erzählte und besprochene Welt" (1964), "Linguistik der Lüge" (1965) und "Wege der Sprachkultur" (1985), davon Zeugnis abgelegt. Sein eindrucksvolles Œuvre umfasst Titel wie "Literatur für Leser" (1971), "Textgrammatik der deutschen Sprache" (1993), "Lethe. Kunst und Kritik des Vergessens" (1997) oder "Kleine Literaturgeschichte der Heiterkeit" (2001). Sein jüngstes großes Buch "Knappe Zeit. Kunst und Ökonomie des befristeten Lebens" zielt erneut ins Herz individueller und kollektiver Existenz.

Den Autoren als den Genien der Sprache hat sich der Jubilar als kongenialer Hüter der literarischen Bildung an die Seite gestellt - ganz in der Tradition jener Wissenschaften, zu deren Kernkompetenz die Rhetorik gehört. Ein Linguist, ein Homme de lettres, ein Schriftsteller, der sich mit den Juristen und Oratoren alter Schule messen lassen kann, dessen Gespür für die Dichtkunst einen Glücksfall für die Wissenschaften darstellt - und auch für die Schriftsteller, die er in den Blick nahm. In diesem Herbst erscheinen seine "Kurzen Besuche bei Gut und Böse" unter dem Titel "Wie zivilisiert ist der Teufel?" Wir werden dem Buch einen Besuch abstatten.


Titelbild

Harald Weinrich: Wie zivilisiert ist der Teufel?
Verlag C.H.Beck, München 2007.
255 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783406564604

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