Vielstrophig holpernd

Friedbert Aspetsberger gibt einen Sammelband zur 'Figur' Ingeborg Bachmann heraus

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

GermanistInnen könnten nicht schreiben, besagt ein bekanntes Klischee. Auch ein Mann vom Fach wie Friedbert Aspetsberger ventiliert es, wenn er schreibt, dass sich ein Beitrag des Mediziners Peter Frigo "leichter liest als jeder germanistische Text, was die Terminologie betrifft". Ohne weiteres könnte man Aspetsbergers eigenen Text als Beleg für besagtes Klischee anführen und etwa Sätze wie diesen zitieren: "In der genannten Selbstparodie 'Kantate' tritt Lassnig, gänzlich unkaschiert in ihren 50ern - ja geht man nach der Datierung des Liedtextes und dem Erscheinungsjahr des Films in 'Die Feder ist die Schwester des Pinsels', Lassnigs Tagebüchern von 1943 bis 1997, so ist sie über 70 - in der genannten Selbstparodie also, begann ich, tritt Lassnig als Chanteuse in sogenannten gewagten Kostümen, zum Beispiel in Netzstrümpfen oder noch riskanter, weiß man und singt sie: im Hochzeitskleid auf, so verzerrt-solid wie provokant-erotisch, mit einem vielstrophigen, holpernden, weil den Rhythmus der Zeilen und der Musik nicht haltenden, schön aufgehackten Lied, in dem die unverhemmte Sängerin ihr Leben als ständige Auseinandersetzung zwischen den Drängen und Bedürfnissen der Liebe und des Lebens einerseits und ihrer Selbst-Widmung an die Kunst und ihrer Bestimmung für das Kunstschaffen anderseits elegisch besingt." Aber selbstverständlich besagt ein misslungener Satz wenig über die stilistischen Qualitäten germanistischer Arbeiten. Und selbst wenn alle Texte Aspetsbergers nur unter Qualen zu lesen wären, so könnte man daraus keinerlei Rückschlüsse auf die Schreibkünste seiner ZunftkollegInnen ziehen.

Aspertsbergers Lob der Sprachkunst eines Mediziners findet sich ebenso wie das längere Zitat im Vorwort eines von ihm herausgegebenen Sammelbandes, der den Lesenden "neue Bilder" Ingeborg Bachmanns verspricht. In ihm hat der Herausgeber ganz überwiegend Texte von Fach- wie auch von "Kunstkolleginnen" Ingeborg Bachmanns zusammengestellt. Denn die "philologische Unvereingenommenheit" letzterer und ihre im Unterschied zu den - wie er mit herablassendem Unterton formuliert - "oft rührend andächtigen Texten" seines eigenen Faches "vielleicht deutlichere Bild-Sprache", so hofft er, könnten "eine interessante Tagung ergeben". Offenbar sah Aspetsberger seine Hoffnung auf der "46. Literaturtagung des Instituts für Österreichkunde zu Allerheiligen 2006" bestätigt. Andernfalls hätte er die dort gehaltenen Vorträge kaum einem lesenden Publikum offeriert, wie mit dem vorliegenden Sammelband geschehen.

Tagung und Buch sind weniger auf das Werk Bachmanns hin ausgerichtet, als vielmehr auf ihre Biografie und ihre - wie es im Untertitel heißt - "Figur". Das Werk dient den Beitragenden als Fackel, die ihnen Bachmanns Leben erhellt, wobei sich der Herausgeber insbesondere für ein Thema interessiert: "Bei Bachmann", so Aspetsberger, "sollte gesagt werden können (und dürfen), was Inzest heißt, wenn von der Dichterin Inzest angesprochen oder angespielt wird oder wenn Bereiche, die dafür typisch gehalten werden können, eine Rolle spielen". Eine Formulierung, die nahe legen könnte, eine solche Thematisierung werde strafrechtlich geahndet. Selbstverständlich wird auch dem Autor bekannt sein, dass dem nicht so ist. Und natürlich handelt es sich bei dem Zitat um eine Immunisierungsstrategie gegen anfällige Kritik, wie auch sogleich deutlich wird, wenn Aspetsberger fortfährt: "Nicht aber soll ein Leser / eine Leserin (LiteraturwissenschaftlerIn) gerügt werden, wenn bei ihm / ihr das Wort Inzest fällt, wie im 'Bachmann-Handbuch'". Das zielt auf Britta Herrmann, die sich gegen eine biografistische Lesart ausspricht, welche aus den Vergewaltigungsszenen im zweiten Kapitel "Malinas" schließt, Bachmann sei ein Inzestopfer ihres Vaters gewesen. Eine These, die seit Jahren etwa von Alice Schwarzer vertreten wird. Auch einige der Beitragenden des vorliegenden Buches spekulieren darüber.

Jedoch nicht alle. Die Künstlerinnen wie etwa Angelika Kaufmann, Elfriede Gerstl oder Ina Loitzl interessiert diese Frage weniger. Sie widmen sich lieber der Kunst. Der Ingeborg Bachmanns und der eigenen, indem sie sich als KünstlerInnen künstlerisch auf jene beziehen.

Ebenso zeigen sich nicht alle der WissenschaftlerInnen an der Thematik und Frage des Inzests in Werk und Leben Bachmanns interessiert. Daniela Strigl stellt vielmehr einige interessante Überlegungen zu den "Kritischen Schriften" der Österreichischen Autorin an, wobei sich insbesondere der Abschnitt über eine Protagonistin aus dem Werk einer Bachmann kongenialen Schriftstellerin als lesenswert erweist. Er widmet sich Elfriede Jelineks Figur Inge in "Der Tod und das Mädchen". Annegret Pelz geht hingegen dem "Problem der neutralisierten Erzählstimme" bei Bachmann und Blanchot nach. Beide, so Pelz, "haben die Problematik der Neutralisierung poetologisch je unterschiedlich begründet zu ihrem Thema gemacht", wobei sowohl Bachmann als auch Blanchot ihre Texte thematisch "an der Schwelle zum neutralisierten Reich der Zeichen" ansiedeln und ihre "Reflexionen über das Verschwinden der individuellen Eigenart" in "vergleichbarer Weise" veranschaulichen.

In einem erhellend und - ja, man muss es sagen - einfühlenden Beitrag nimmt Alice Bolterau Bachmanns Liebesbegriff unter die Lupe. Vielleicht, so mutmaßt sie, "verhält es sich ganz einfach so, dass die Liebe [in Bachmanns Werken] das Paradebeispiel für diese anderen ideologie- und sprachkritischen Ambitionen abgibt, oder auch so, dass sich anhand der Liebesthematik Aspekte einer manipulativen Ideologie und einer 'falschen' Sprache mit besonderer Virulenz nach- und aufweisen lassen". Dann, so schließt sie, wäre die Liebe "in erster Linie ein Exerzierfeld, auf dem die Mechanismen und Strategien sozialer Kontrolle, politischer Infiltration und sprachlicher Determination besonders krass, aber eben auch besonders deutlich zutage treten und beobachtbar sind". Über dieses Exerzierfeld hinweg und durch es hindurch spanne Bachmann einen Bogen "[v]on der Evokation eines paradiesischen Urzustandes der Liebe [...] bis zu einer letztlich nicht einholbaren Utopie der Liebe als Idee eines neuen Menschen".

Die aus den unterschiedlichsten Bereichen der Künste und der Wissenschaften stammenden Beitragenden garantieren nicht nur vielfältige Zugänge zu Bachmann, sondern beleuchten zudem ganz verschiedene Aspekte ihrer Person und - über die Ankündigung des Untertitels hinausgehend - auch ihres Werkes. Einer der vier Bereiche, in die der Herausgeber den vorliegenden Band untergliedert hat, gilt jedoch ganz seinem Herzensanliegen. "Der Inzest kommt vor dem Fall" hat er ihn betitelt, wobei er sich offenbar von Marcel Reich-Ranickis anzüglicher Charakterisierung Bachmanns als "gefallener Lyrikerin" inspirieren ließ.

Zunächst stellt Gudrun Tengg in einer umgearbeiteten Examensarbeit einige Überlegungen "zur Frage des Inzests im 'Buch Franza'" an. Dann kommt der von Aspetsberger im Vorwort zum "Leser von Graden und Kenner verschiedener literarhistorischer Bereiche" nobilitierte Arzt für Frauenheilkunde mit den Spezialgebieten "Östrogene in der Umwelt", "Hormone und Krebs", "neue Ultraschalltechniken" sowie "hormonelle Probleme der Frau" Peter Frigo zu Wort. Die Überschrift seines Beitrages kündigt nicht etwa eine Interpretation des Romans "Malina" an, sondern "Interpretationen". Diese erweisen sich allerdings schnell als - hier ist allerdings der Singular angebracht - Diagnose. Für sie benötigt er als Arzt, dessen Zeit offenbar knapp bemessen ist, gerade mal anderthalb Seiten. Dass sein Befund nicht nur auf die Protagonistin des Romans zielt, sondern auch auf dessen Autorin, macht er gleich eingangs deutlich, indem er betont, der Roman sei "in einigen Zügen durchaus autobiographisch". Das Werk, so führt er aus, handele von einer "Erzählerin, deren Namen wir nur als Ich kennen". Diese lebe mit Malina und Ivan "in einer Dreiecksgeschichte". Der "dritte Mann, der Vater" nun sei die Ursache für "die Psychopathologie der Erzählerin". Denn sie sei "durch Gewalt und sexuellen Missbrauch durch ihren Vater in der Kindheit sicher stark verändert" worden.

Dass es sich hierbei nun nicht etwa um die irrtumsanfällige Interpretation irgend eines beliebigen Literaturwissenschaftlers, sondern um den Befund eines fachkundigen Mediziners handelt, unterstreicht er mit der Anmerkung, als Frauenarzt habe er "fast täglich mit Frauen [zu tun], die dieses traurige Schicksal der Erzählerin teilen". Folge eines solchen Missbrauchs könnten "Satyrismus, Frigidität oder Homosexualität in allen Kombinationen" sein, womit der Autor ganz nebenbei Schwule und Lesben pathologisiert. Inzest und Gewalt selbst seien wiederum "medizinisch durch Vererbung aber auch Genmutation zum Teil erklärbar". Zur Beglaubigung seiner Ausführungen versäumt er nicht, auf den Biologen, Ethologen und Vergleichenden Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt und dessen Ansichten über die Sexualität "bei Menschen und Primaten" zu verweisen.

Nachdem sich mit Frigo ein Mann vom Fach so dezidiert zum Inzest im Werk Bachmanns geäußert und zugleich eine entsprechende Traumatisierung im Leben der Autorin insinuiert hat - warum sonst sollte er die autobiografischen Züge des Romans konstatieren? -, wagt sich der Herausgeber selbst an das Thema. Wie der Untertitel seines Beitrags "Zu Literatur und sexuellem Missbrauch + ein Blick auf Ingeborg Bachmann" verrät, zerfällt dieser in zwei Teile. Zunächst widmet Aspetsberger sich allgemein dem sexuellen Missbrauch, seiner Literarisierung, seiner Darstellung in der bildenden Kunst und seiner gesellschaftlichen Funktion. Dabei oszilliert sein Beitrag zwischen berechtigter Skandalisierung und Verharmlosung qua Terminologie: "Der sexuelle Missbrauch von Mädchen erzielt traumatisierte Frauentypen, die sexuell rasch und gut verwendet werden können. Sie fungieren damit zugleich als Grundlage diffamierender 'Wesensdefinitionen' der Frau, und das nicht nur, weil Missbrauchte auch für die Prostitution von Kind auf günstige Arbeitskräfte stellen, gleichsam als Frauen-Puppen verwendbar und verwendet werden."

Nun ist nicht ganz auszuschließen, dass er den sexistischen Sprachgebrauch nur adaptiert, um den Sexismus des Geschehens umso deutlicher hervortreten zu lassen. Dass er allerdings von Prostituierten als "Arbeitskräften" spricht, lässt vermuten, dass die Prostitution für ihn ein Beruf wie jeder andere ist. Und dann ist da noch etwas, das man nicht anders als mit bedenklichem Stirnrunzeln quittieren kann: Ingeborg Bachmann, so schreibt Aspetsberger, "wendet als Erzähl-Modell für ihre Frauen-Figuren [...] die Beweglichkeit der Nymphen an". Diese "Konzeption der Figuren" treffe sich "mit der Beschreibung, die sie selbst als Heldin von Romanen und in anderen Texten erfährt". Als Beispiele nennt er das selbstgefällige Werk eines Mannes 'in den besten Jahren', der von ihm geförderte Nachwuchsautorinnen auch gerne in sein Bett beförderte, (Hans Weigels "Unvollendete Symphonie"), den sich in ebenso pikanten wie fragwürdigen Details gefallenden Reisebericht eines drittklassigen Autors, der sich im Lichte seiner Bekanntschaft mit einer Schriftstellerin von Rang sonnt ("Adolf Opels Bücher zur Ägyptenreise mit Bachmann") und schließlich ein Werk, von dem sich Bachmann zutiefst verletzt und verraten fühlte (Max Frischs "Mein Name sei Gantenbein"). Nahegelegt werde soll mit dieser Parallelisierung offenkundig, dass man Bachmanns Protagonistinnen dann doch wohl zurecht autobiografisch interpretieren kann.

Doch ist durchaus nicht alles an Aspetsbergers Beitrag zu kritisieren oder zu verwerfen. So weist er etwa auf die gesellschaftliche Funktion der Traumatisierung von Opfern sexuellen Missbrauchs hin: "Die Täter-Männer stellen durch Mädchen- / Frauenmissbrauch kaputte bzw. devote Frauen-Formen her und stabilisieren dadurch das Patriarchat." Eine plausible Überlegung, auch wenn Aspetsberger zur Stärkung seiner These allzu assoziativ querbeet durch Literatur- Kunst- und politische Geschichte galoppiert und der "Fortbestand des Patriarchats" schwerlich alleine durch den "Missbrauch der Mädchen durch angstvolle Männer" "gesichert" wird, wie sein Text nahe legt. Erfreulich ist jedenfalls, dass Aspetsberger im zweiten Abschnitt "Das Missbrauchsmodell bei Ingeborg Bachmann" nicht von den Frauen-Figuren in Bachmanns Prosa auf einen erlittenen Missbrauch der Autorin selbst kurzschließt. Nur, dass solche Überlegungen erlaubt sein sollen, dafür plädiert er leidenschaftlich - und allzu polemisch. Selbstverständlich sollen sie das. Niemand hat je vorgeschlagen, sie zu verbieten. Ebenso wie natürlich auch die vehemente Kritik an derlei Erwägungen erlaubt ist. Oder auch nur die Frage, worin der literaturwissenschaftliche Erkenntniszuwachs solcher Erörterungen liegt.

Ebenfalls nicht unerwähnt bleiben soll ein zweiter Beitrag, den der Herausgeber zum vorliegenden Band beigesteuert hat. "Ein après-propos zum Heiratsplan Henzes und Bachmanns, andererseits zu Josef Winkler, Kurt Klinger, und, eher implizit, zu einigen anderen wie Alfred Opel [sic!] oder W.H. Auden etc." lautet sein doch etwas manierierter Titel. Hier kolportiert Aspetsberger, Bachmann scheine nur dann "Sicherheit [...] gewonnen zu haben, wenn die Geschlechterbeziehungen / -polarisierungen der Form nach ausgeschaltet oder jedenfalls so kanalisiert waren, dass keine Vordringlichkeiten und andere typische Hetero-Konstellationen zu erwarten waren". Als 'Beleg' führt er an, sie habe einem Gast zufolge auf der Einladung eines schwulen Rechtsanwaltes "außergewöhnlich gelöst und zufrieden gewirkt". So etwas ist natürlich von schlagender Beweiskraft. An anderer Stelle konstatiert er, "den Durchbruch zum Erfolg und den Erfolg hatte sie selbe [sic] zu schaffen und sie schaffte ihn". Wie wohl, soll man sich offenbar fragen. "Dass sie viele Mittel einsetzte, bestätigen viele", raunt er seinen Lesern anzüglich ins Ohr, damit sie sogleich die rechte Antwort finden.

Auch in diesem Beitrag wendet sich Aspetsberger Hans Weigels desavouierender Darstellung Bachmanns in dem Roman "Unvollendete Symphonie" zu und führt sie auf eine Beziehung zwischen der jungen Autorin und dem arrivierten Schriftsteller zurück, die Weigel "vermutlich sexuell nicht befriedigend (nämlich nicht: andere ausschließend) geglückt" sei. Auch bei dem Bachmann-Kritiker Kurt Klinger sucht der Autor persönlich Motive wie Rachsucht, Neid und andere niedere Regungen. Der Wahrheitsgehalt solcher Vermutung mag dahingestellt sein. Jedenfalls sagen sie nichts darüber, ob Klingers Bachmann-Kritik begründet waren. Ausgerechnet Adolf Opel, "den Erwecker", "dessen Bekanntschaft [Bachmann] wieder zum dichterischen Schaffen anregte", nimmt Aspetsberger vom Vorwurf niederer Beweggründe aus. Denn ungeachtet dessen "indiskrete[r] Mitteilungen" etwa über Bachmanns "Sexualfantasien" sei er doch "ausreichend Bachmanns Bewunderer" geblieben. Ein Exkulpationsgrund, der umso merkwürdiger anmutet, als der Autor im Vorwort noch die "rührend andächtigen Texte" der Bachmann-Forschung geißelte.


Titelbild

Friedbert Aspetsberger: Ingeborg Bachmann. Neue Bilder zu ihrer Figur.
Studien Verlag, Innsbruck 2007.
208 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783706544498

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