Raum Russland

In seiner umfassenden Studie "Russische Wege" eröffnet der Slavist Felix Philipp Ingold Einblicke in die russische Landeskunde

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Felix Philipp Ingold, emeritierter Professor für Kultur- und Sozialgeschichte Russlands an der Universität St. Gallen, spekuliert über den rettenden Charakter des weiten russischen Raumes: "Der Russe fühlt sich nicht als Organisator des Raums, er läßt sich eher vom Raum konditionieren - am Ort zu treten oder sich treiben zu lassen, hat deshalb Vorrang vor Eigeninitiative, Risikobereitschaft, Aggressivität".

Derartige Zuschreibungen klingen zunächst einmal problematisch. Der riesige Raum Russlands verantwortet jedoch Ingold zufolge das amorphe Gebilde, das nicht klar abgegrenzt oder festgelegt werden kann. Mentale Folgen fänden sich im chronisch fragmentarischen Charakter sämtlicher Unternehmungen, angefangen von alltäglichen Lebensumständen bis hin zu Weltreichphantasien. Der Kulturologe Georgij Gatschew wies in diesem Zusammenhang auf etliche Meisterwerke der russischen Literatur hin, die allesamt unvollendet geblieben sind. Und der Kulturwissenschaftler Michail Bachtin entwickelte in diesem Kontext sein Plädoyer für die Vielstimmigkeit und Offenheit von Kunstwerken.

Ingolds umfangreiche Studie "Russische Wege" beleuchtet in dieser Art von Verschränkung Geschichte, Kultur und Weltbild eines ganzen Kontinents, der zuweilen auch als "russischer Kosmos" bezeichnet wird. Ingolds Bestandsaufnahme ist durch eine breite Rezeption landeskundlicher, religionsphilosophischer und auch kulturwissenschaftlicher Studien abgesichert und lässt ihn mit beeindruckender Akribie und Sinn für Details aktuelle Schlüsse ziehen. Da sich nach dem Zerfall der Sowjetunion zu Beginn der 1990er-Jahre ein starkes Anwachsen kulturologischer Spekulationen verzeichnen lässt, die nicht selten das ideologische Vakuum des verloren gegangenen Weltreiches kompensierten, sind Studien, in denen Hintergründe ausgeleuchtet werden, unverzichtbar.

Im Bemühen, Zusammenhänge aufzuzeigen, teilt Ingold sein vorliegendes Werk in drei Abschnitte auf: "Der russische Raum" - mit einem Exkurs "Heim und Heimat", "Der russische Weg" - mit den umfangreichen Exkursen "Raum und Weg in der russischen Naturdichtung" und "Raum und Weg in der russischen Landschaftsmalerei" sowie "Wege nach Russland". Die in den Exkursen gewonnenen Einsichten gewinnen nicht zuletzt aufgrund reichhaltiger Bildmaterialien und Textverweise russischer Dichtung an Prägnanz.

Der russische Raum-Mythos bietet nach Ingold ein exemplarisches Beispiel für verallgemeinerte Selbstbeschreibungsmodelle, die in Russland seit über zweihundert Jahren wie auch immer gepflegt oder auch bekämpft, jedenfalls tradiert werden. Die riesige geografische Weite führe zur Willenlosigkeit, zugleich würden Trägheit und Fatalismus in Opposition zu europäischem Aktionismus und Verantwortungsdenken gesetzt. Ingold betont die Klischeehaftigkeit solcher Verkürzungen und mahnt dagegen kritische Einsichten an.

Ergiebiger scheint die Auslotung einer eigentümlichen russischen Gebrochenheit, die "der Hiatus zwischen ,wir' und ,sie', zwischen dem Eigenen und dem Fremden akzentuiert". Ingold führt die Beispiele Kijew/Byzanz, Heidentum/Christentum, Russen/Mongolen, Russland/Europa oder Volk/Intelligenz an.

Vor dem Hintergrund des weiten Raumes umfasst das behandelte Figurentableau neben Bauern und der Sondergruppe des Adels, die zuweilen in Russland abgesondert wie in einem inneren Exil lebten, Söldner, Pilger, Bettler, Abenteurer und Narren. Der Topos des Weges beleuchtet die in Russland grundständige Spannung zwischen Dableiben und Weglaufen. Bereits ein Blick auf die russische Grammatik zeigt bereits die Vielfalt ausdrückbarer Aktionsarten bei Verben der Bewegung auf.

Am Beispiel der russischen Landschaftsdichtung belegt Ingold, dass der Weg als wichtigstes Kulturobjekt gilt: "Der steinige Weg in die kalte abweisende Ferne ist der Weg in die ewige Heimat und ist gleichzeitig der einzige Weg zu sich - ins Ich."

Im abschließenden Kapitel "Wege nach Russland" untersucht Ingold die Auswirkungen fremder Einflüsse. An einer Reihe von Beispielen kommt er zu dem verblüffenden Schluss, dass kaum etwas, was innerhalb aber auch außerhalb Russlands als ,typisch russisch' gilt, tatsächlich russischen Ursprungs oder eine russische Eigenentwicklung ist. Zugleich betont Ingold ausdrücklich, dass es sich bei der russischen Fähigkeit zur Integration und Akkulturation des Fremden um weit mehr handelt, als um bloße Imitation. "Das typisch Russische", so Ingold, "tritt als eine Synthetisierung des Fremden in Erscheinung". So ist auch Ingolds Resümee zu verstehen: "Stets sind Russlands Wege Umwege gewesen; über Umwege kam das Russentum zu sich selbst."


Titelbild

Felix Philipp Ingold: Russische Wege. Geschichte - Kultur - Weltbild.
Wilhelm Fink Verlag, München 2007.
569 Seiten, 48,00 EUR.
ISBN-13: 9783770544233

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