Vademecum

Marta Kijowska führt durch die literarischen Landschaften Polens

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In "Polen, das heißt nirgendwo", spiele sein Stück "König Ubu", meinte der französische Schriftsteller Alfred Jarry 1896. Dieselben Worte wählt Marta Kijowska als Titel für ihr Buch über die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts. Die polnische Germanistin, Journalistin und Übersetzerin, die seit 1979 in München lebt, begibt sich darin auf einen "Streifzug durch Polens literarische Landschaften" und lädt den Leser ein, ihr zu folgen.

Alfred Jarry spielte mit seiner Bemerkung wohl zunächst darauf an, dass Polen damals auf keiner Karte zu finden war. Knapp 100 Jahre früher waren die letzten Reste eines polnischen Staates verschwunden; Polen war in drei Schritten zwischen Preußen, dem Zarenreich und Österreich aufgeteilt worden. Möglicherweise enthielt Jarrys Bemerkung aber auch einen gewissen Hintersinn: Vielleicht zielte er auf die Tatsache ab, dass dem damaligen (französischen, deutschen usw.) Intellektuellen nicht gerade viel über Polen bekannt war. Polen als weißer Fleck auf der Landkarte? Dies dürfte für viele noch heute gelten, und dies gerade auch im Hinblick auf die Literatur. In diesem Sinn ist Kijowskas Buch ein willkommenes Stück Aufklärungsarbeit.

Marta Kijowska hat sich für ein topografisches Kriterium entschieden, um ihr Material zu ordnen. Die Kapitel sind meist um Städte oder Regionen herum organisiert. Kijowska beginnt mit einer Schilderung des brodelnden literarischen Lebens um 1900, das sich vornehmlich in Krakau und in Zakopane, dem Kurort in der Tatra, abspielte. Damals prägte die "Mloda Polska" (Junges Polen), die polnische Spielart des Modernismus, die Literaturszene. Weitere Kapitel widmen sich etwa dem Wilna der Dreißigerjahre oder Lemberg und Ostgalizien. Mit Wilna, das heute litauische Hauptstadt ist, sind beispielsweise der polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz, aber auch der Nobelpreisträger von 1980, Czeslaw Milosz, eng verbunden. Kijowskas Buch endet mit einem Überblick über die Literatur nach der politischen Wende von 1989.

Wenn sich Kijowska an ein topografisches Strukturierungselement hält, so schließt sie vielleicht bewusst an den aktuellen "spatial turn" an. Raum und Raumvorstellungen stoßen in den Kulturwissenschaften zunehmend auf Interesse. Dies gilt ganz besonders für Mittel- und Osteuropa, was sich etwa in den Werken des Historikers Karl Schlögel ("Im Raume lesen wir die Zeit", 2003) niederschlägt. Das Konzept geht bei Kijowska allerdings nicht ganz auf, denn gegen Schluss ihres Buches weicht die Autorin hin und wieder davon ab. Dies tut allerdings dem Informationsgehalt ihres Bandes keinen Abbruch. Vielleicht sollten die "literarischen Landschaften" hier nicht allzu eng verstanden werden. Sie wären dann nicht bloß geografisch zu begreifen, sondern überdies in einem übertragenen Sinn: Polen ist auch deshalb "nirgendwo", weil es - gerade in und durch die Literatur - eben auch eine imaginierte Landschaft ist.

Kijowska versammelt sehr viel Material, auf knapp zweihundert Seiten wird ein literarisches Jahrhundert durcheilt. Vieles kann daher nur angedeutet, nicht aber näher ausgeführt werden. Das birgt bisweilen die Gefahr eines gewissen "name droppings", bei dem die erwähnten Autoren und ihre Werke kaum Konturen gewinnen. Dies gilt umso mehr, wenn man Kijowskas Buch neben ein früheres stellt: In "Krakau. Spaziergang durch eine Dichterstadt" (2005) hatte sich die Autorin noch auf eine einzige Stadt konzentriert, wodurch das geschilderte Bild ungleich farbiger und detaillierter ausfallen konnte. Auf der anderen Seite muss jedoch auch betont werden, dass Kijowska gar nicht den Anspruch erhebt, erschöpfend über die polnische Literatur des 20. Jahrhunderts informieren zu wollen. Ihr Buch ist als Essayband gedacht und nicht als eine wissenschaftliche Literaturgeschichte konzipiert. Man sollte Kijowskas Streifzug eher als eine erste Orientierungshilfe durch die polnische Literatur verstehen. Ein Panorama der polnischen Literatur im 20. Jahrhundert entsteht allemal. Kijowska regt dazu an, den einen oder anderen Autor näher kennen zu lernen. Hilfreich ist hierbei die kurze persönliche Leseliste am Schluss des Bandes. Eine Stärke des Buches liegt auch in den Interviews, die Kijowska mit mehreren Schriftstellern geführt hat: Wo Zitate aus den Interviews in den Band einfließen, gewinnt er an Lebendigkeit.

Dass der heutige deutschsprachige Leser immer wieder eingeladen wird, europäisch zu denken und die Kultur(en) der Nachbarn besser kennen zu lernen, muss vielleicht nicht eigens gesagt werden. Wer Marta Kijowska auf ihren literarischen Streifzügen durch Polen begleitet, dem wird das gelingen. Kijowska nimmt mit ihrem Buch eine wichtige Vermittlerfunktion ein. Es ist es ein Bindeglied zwischen einem rein akademischen, spezialisierten, slawistischem Diskurs und einer interessierten Leserschaft, die ganz einfach etwas mehr über polnische Literatur erfahren möchte. Diese Schnittstelle wird selten genug besetzt. "Vademecum", scheint Kijowska dem Leser zuzurufen, und man folgt ihr gerne.


Titelbild

Marta Kijowska: Polen, das heißt Nirgendwo. Ein Streifzug durch Polens literarische Landschaften.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
220 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783406563751

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