Nicht kalt genug

Albert Ostermaier versucht sich an einer lyrischen Adaption des französischen Kinos

Von Nikolai PreuschoffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nikolai Preuschoff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Paris ist sicherlich ein schöner Ort zum Sterben. Davon im Grunde lebt der französische Film "Polar" (mit "Krimi" nur unzureichend übersetzt). Von der Spannung zwischen ästhetischem Wohlgefallen und Abscheu, vom Stil auch, den der Tod den Protagonisten zur Ausfüllung der Zwischenräume lässt. Diesem Film, seinen Figuren, Bildern und Atmosphären hat Albert Ostermaier einen, bereits im letzten Jahr bei Suhrkamp erschienenen, Gedichtband gewidmet. Genauer, seiner Kühle und ästhetischen Qualität, die bereits Ausdruck findet in den melodiösen Namen seiner Regisseure und Darsteller: Jean-Pierre Melville, Jacques Deray, Catherine Deneuve, Alain Delon und Yves Montand.

Das Thema ist, für einen Gedichtband, sehr schön gewählt und von einiger Konsequenz. Bestechend ist zunächst die Vorstellung, dass ein Dichter sich, mit leicht nostalgischer Attitüde, dem Kino und einer handvoll ziemlich in Vergessenheit geratener Filme zuwendet, mit denen er eine Art melancholische Vereinbarung geschlossen hat. Denn das Rohmaterial, die cineastische Erinnerungswolke aus Motiven und Szenen, verlangt geradezu danach, in das - schließlich vom Bild lebende - Medium der Lyrik übertragen zu werden.

Überzeugend knüpft der Titel "POLAR" an Ostermaiers vorausgehende Gedichtbände an: per Gleichklang an "SOLAR/PLEXUS" (2004), semantisch an "AUTOKINO" (2001). Anders als der Band "AUTOKINO", der das ganze Bedeutungsspektrum des titelgebenden Kompositums abdecken möchte und anders als der Band "SOLAR/PLEXUS", der die Mehrdeutigkeit recht plakativ zur Schau stellt, spaltet sich "POLAR" nur scheinbar in zwei semantische Felder. Denn die Genrebezeichnung des Films ist bereits eine metaphorische, und so ist die Kälte und die Unwirtlichkeit des Polarkreises von vornherein als eine im Kino entfaltete zu verstehen. Hierauf weisen nicht nur Titel und Umschlaggestaltung (nach Jean-Pierre Melvilles Film "Un Flic" von 1972) hin sowie ein gutes Dutzend monochromer Filmszenen-Fotografien, sondern auch die durchweg französisch gehaltenen Gedichttitel (die allerdings nur selten direkt auf Filmtitel Bezug nehmen).

Und hier beginnt das eigentliche Problem: Ostermaier begibt sich derart zwar direkt ins Unzweideutige, nämlich ins Kino, für das "Polar" metaphorisch steht, meidet aber den Frost, die Kälte, geht diesen Weg also nicht konsequent zu Ende. Wenn Michael Alten im Nachwort erklärt, der Autor habe es sich hier nicht zur Aufgabe gemacht, den Film "Polar" mit den Mitteln der Lyrik "schärfer zu fassen" als die Filmkritik, dann ist die Krux damit bereits beschrieben: Ostermaier versucht es nicht einmal.

So aber müssen sich seine Gedichte fragen lassen, was sie mit dem cineastischen Stoff ästhetisch, inhaltlich, atmosphärisch, visuell wollen. Und was herauskommen soll, wenn sich der Dichter dieser Übersetzungsleistung vom Medium Film ins Medium Poesie von vornherein verweigert. So bleibt alles vage im Atmosphärischen mit etwas Popkorntütenrascheln. Der frankophile Zuschauer ist empört: Der Film ist deutsch, schlecht synchronisiert (verzichtet auf das Einsprengseln französischen Wortmaterials) und spart sich gleich den Abspann (Namen, Titel bleiben, mit Ausnahmen, unerwähnt). Weder erfahren wir, was die Filme erzählen, noch die Regisseure und die Akteure, geschweige denn (wenn das nicht schon zu viel verlangt ist), was ihre cinematografische Technik aus- oder kennzeichnet und schließlich auch nichts von dem Politischen, das dem "Polar" als Kulturprodukt des Kalten Krieges immer auch innewohnt.

"Kristallin" hat man, in leicht metaphorischer Überspannung, die Struktur und Kontur des Film "Polar" genannt. Dabei ist kristallin eine Eigenschaft, die jedem Film als einer Abfolge eingefrorener, starrer und in Sequenzen zusammengeschnittener Bilder zukommt. Erst in der raschen Abfolge wirken sie lebendig. Ostermaiers Gedichte, die sich das Kino auf den Titel geschrieben haben, sind alles andere, nur das nicht. Mehrheitlich kennen sie keine Strophen, beatige, aber dicht an der Prosa geschriebenen Zeilen wirken eher weich, breiig, warm, gewebt, jedenfalls nicht scharf genug gebrochen und vor allem kalt genug für den "Polar".

Es gibt sie durchaus, die Passagen, Wechselspiele von Worten und Bildern, die gelungen sind, weil sie sich der Atmosphäre einiger Filme versichern. Vergegenwärtigen wir uns etwa die erste Szene von Jean-Pierre Melvilles "Samourai" (1967, dt.: "Der Eiskalte Engel"): Ein leerer Raum, schmierige Wände, zwei Fenster, trübes Licht, ein Mann, rauchend auf einem Bett, ab und zu pfeift ein Kanarienvogel in seinem Käfig. Bei Ostermaier klingt das so: "sein gesicht ein gletscher blasse / haut im gedimmten licht die / schwankende glühbirne an der / decke umschreibt ihr sonnen / system die fliegen zerplatzen an / der hitze kreisen um sie wie / schlaftrunkene planeten...". Was stark und konkret beginnt, verdunstet nach einigen Zeilensprüngen ins Ungefähre, Richtung Sonnensystem (und überhaupt sind Fliegen, falls es jemanden interessiert, in dieser Szene nicht zu sehen).

Wenn das Kino eine "Maschine" ist, "die in Bildern denkt", wie Althen im Nachwort schreibt, so scheint es konsequent, dass Ostermaier wie zur Bekräftigung, sicher auch zur Kommentierung seiner dichterischen Annäherungsversuche, einige "Polar"-Bruchstücke in Form von je vier doppelseitig abgedruckten Bildschirm-Fotografien beigibt. Sie zeigen in Großaufnahme einen Revolver mit aufgeklappter Trommel, eine herabhängende Hand mit Zigarette, eine verregnete Autoscheibe, einen Hut mit Tatort-Nummer; außerdem Leichen, auf Teppichen, im Pool. Alles gelungene, morbid-schöne Motive, was den Aufnahmen aber fehlt, sind Schärfentiefe und Kontrast. So wirken sie wie das Gros der Gedichtzeilen: zu schwammig. Dommage.


Titelbild

Albert Ostermaier: Polar. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
142 Seiten, 20,80 EUR.
ISBN-10: 3518418181

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