Dunkle Wolken über Schließlich-Holzbein

Sarah Kirsch präsentiert sich in ihrer neuen Tagebuchprosa als quicklebendige und kecke Weltbürgerin vom schleswig-holsteinischen Lande

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neue Tagebuchprosa von Sarah Kirsch dokumentiert den Zeitraum zwischen September 2003 und Februar 2004. Die für die Autorin charakteristische Sprache, die von Verballhornungen und Sprachspielereien lebt, scheint sich in diesen neuesten Notizen verdichtet zu haben. Bereits bei der Bezeichnung von Wochentagen wie ,Montauk' oder ,Mistwoch' sowie bei Monatsnamen wie ,Septembrius', ,Octopus' oder ,Jaguar' und ,Zebra' setzt Kirschs Lust an der Sprachbastelei ein. Diese Freude am Montieren von Worten und Begriffen setzt sich bis zum letzten Satz konsequent fort. Einer der Gründe, warum die Lektüre dieser Tagebuchnotizen nicht nur komisch, sondern auch spannend bleibt, liegt darin, dass es die Autorin nicht allein bei diesen Wortklaubereien belässt. Eine genaue Lektüre offenbart, dass dieses Wortgeklingel wohldosiert verwendet wird. Launiges kippt hier niemals in schrille Albernheit um. Eine Kunst des feinen Unterschieds, die im Zeitalter hektischer medialer Betriebsamkeit selten geworden ist.

Sarah Kirsch ist eine souveräne Meisterin des Wortes. Lakonisch notiert sie während eines Spaziergangs: "Der Bauer fährt Gülle in Hülle und Fülle". Kirsch inszeniert neben Bildern, Metaphern und Verdrehungen auch Anklänge uralter Rätsel- und Reimmotive.

"Runtergekommene Blätter drängeln sich durch die Türen ins Haus, am liebsten die Treppe noch ruff", so beginnt die vorliegende Sammlung mit dem ,1. Septembrinus 2003'. Modellhaft wird bereits eingangs die eigentümliche Sprachverwendung angewandt: Laub, das im Herbst fällt, wird zum Handlungsträger. Mit diesem einfachen Kunstgriff wird das übliche Subjekt-Objekt-Schema durchbrochen. Ganz ungewöhnliche Tätigkeiten werden möglich. Da sich dies aber durch allgemein bekannte Objekte vollzieht, wird eine wohltuende Fremdheit erzeugt, die neue Wahrnehmungsmuster zulässt: "Das Haus atmet im Wind, macht mal hier und mal dort eine Tür auf".

Ab und an spricht Sarah Kirsch in Rätseln, die der Leser zu entziffern hat. Bei dem "blauen Maurizius" oder auch "Maurizio" handelt es sich um ihren Sohn Moritz, "Halftown" ist Halberstadt, der Ort ihrer Kindheit und Jugend. Mit "Tee" ist Tielenhemme im Bundesland Schleswig-Holstein gemeint, wo sich Sarah Kirsch 1983 in einem ehemaligen Schulhaus niedergelassen hat. Die Handlungen, von denen in den Notizen berichtet werden, sind denkbar prosaisch. Da müssen Handwerker bestellt werden, dann wieder berichtet sie von ihrer Lektüre, erinnert sich an alte Zeiten in der DDR oder schildert Wolken, Pflanzen und Vögel auf ihren Spaziergängen draußen am Land. Zusätzlich sorgt die Katze Emily über Wochen und Monate hinweg für Abwechslung.

Es sind wohldurchdachte Kompositionen, die von einer rasch gesetzten Bildfolge leben, hingeschrieben mit scheinbar leichter Hand: "30. Decembrius 2003, Dienst: Dicker Nebul und nur noch 1 Grad. Vielleicht wird ja Schnee vorgekramt. Ich war mit Emily im Garten, wir haben den Drosseln Äpfel ausgelegt. Damit die Katze später Theater hat von ihrem Fensterplatz aus. In China fliegen schon die Feuerwerksfabriken in die Luft. Post vom Maler Goltzsche, dass er geheiratet hätt. Meiner Meinung war er schon. Es wird von 40 Tausend Toten beim Erdbeben gesprochen".

Diese Notizen belegen nebst ihrer eindrucksvollen Dichtheit Sarah Kirschs besondere Form der Wahrnehmung: Die Sphäre der Natur und intime Privatheit vermischen sich mit Nachrichten aus aller Welt. Bilder einer friedlichen Idylle vom Lande sind womöglich am ehesten in der Lage, die Schrecken der Zivilisation zu ertragen - ausgeblendet werden diese jedenfalls nicht. Und so erklärt sich die spezifische Mischung dieser Texte: neben einer ganzen Palette von Vögeln wie dem Laubsänger, der Schwanzmeise, der Rohrweihe und anderen, die von der studierten Biologin beobachtet werden, finden konfliktreiche Ereignisse in Palästina, Erdbeben in Kalifornien oder Namen wie Saddam Hussein Eingang in diese schnoddrigen wie farbigen Tagebuchnotizen.

"Langweilig ist es mir nie", schreibt Sarah Kirsch, "Immer ist was zu denken. Hoffentlich macht mir Sir Alzheimer keenen Strich durch die Gedanken".

So eingeschränkt die idyllischen Medaillons sind, so streitbar, ja widerborstig bleibt ihre Autorin. Sie schickt federspitze Pfeile ab, wenn Namen wie Christa Wolf ("Frau Lupus") oder Günter Grass fallen. Dessen "Letzte Tänze" - "ein Grusel-Horror-Trip mit Lithographien". Geschenkt! Konstant und herrlich unzuverlässig bleiben die Ausblicke in die Zukunft: "Dunkle reale Wolken niedrigster Art über Schließlich-Holzbein. Schauer werden vermutet".


Titelbild

Sarah Kirsch: Regenkatze.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007.
143 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783421043160

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