Die Folgen des Bürgerkriegs

In Jaume Cabrés packendem Roman "Die Stimmen des Flusses" ist der spanische Bürgerkrieg der Ursprung aller Dinge

Von H.-Georg LützenkirchenRSS-Newsfeed neuer Artikel von H.-Georg Lützenkirchen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bürgerkriege, so sagt man, sind unter den Kriegen die schlimmsten. Mag für manch einen Krieg in der Menschheitsgeschichte bei wohlwollender Analyse ein Rest rationaler Rechtfertigung gefunden werden, so fällt diese ,Entschuldigung' bei Bürgerkriegen fort. Bürgerkriege leben von der unmittelbaren Feindschaft zwischen Menschen, die sich kennen, die als Nachbarn eben noch gemeinsam in einem Dorf lebten, deren Kinder miteinander spielten. Die Nähe gebiert eine gefährliche Leidenschaft, die entfesselte Gewalt verursacht. Der Schock eines Bürgerkriegs sitzt tief, wenn man erleben muss, wie ehemalige Nachbarn zu grausamen Mördern werden. Der Bürgerkrieg bringt eine der Grundbedingungen menschlichen Zusammenlebens ins Wanken: Vertrauen. Bürgerkrieg zerstört Heimat. Die Zerstörung hinterlässt bei den Überlebenden offene Wunden, verstörte Seelen.

Spanien erlebte einen solchen Bürgerkrieg in den Jahren 1936 bis 1939, als aufständische Militärs unter Führung des Generals Franco gegen die Republik putschten. Der Kampf der republiktreuen Truppen und ihrer sie tragenden Parteien und Sympathisanten gegen die Aufständischen und ihre Verbündeten, darunter die 1933 gegründete faschistische Falange, eine ultranationalistische und antikommunistische Bewegung, die nach Francos Sieg zur Staatspartei der Franco-Diktatur wurde, wurde zum symbolischen Kampf gegen den Faschismus in Europa. Er endete mit dem Sieg Francos. Doch vor allem in den gebirgigen grenznahen Regionen Kataloniens kämpften weiterhin viele Untergrundkämpfer einen bitteren Krieg gegen das Regime.

Das ist die historische Ausgangssituation in Jaume Cabrés außergewöhnlichem Roman "Die Stimmen des Flusses". In dem Pyrenäendorf Torrena töten zu Beginn des Bürgerkriegs anarchistische Milizen zwei Männer der einflussreichen Famile Vilabrú. Unfreiwillig an der Erschießung beteiligt sind auch Bewohner des Dorfes. Die Getöteten sind Vater und Bruder von Elisenda Vilabrú. Die junge, faszinierende Frau verfolgt nun mit eisig grausamer Konsequenz und mit Hilfe des von ihr gedungenen Falangisten Valenti Targa einen persönlichen Rachfeldzug, der das Dorf in zwei unversöhnliche Lager teilt: hier die Francisten und opportunistischen Profiteure des neuen Regimes, dort die aktiven und passiven Widerständler. Gegen diese führt der inzwischen zum Bürgermeister avancierte Targa einen grausamen Kampf. Weil er sich in einer entscheidenden Situation nicht deutlich vom mörderischen Tun Targas distanziert, gerät der neue Dorfschullehrer Oriol Fontenelles in eine tragische Lage. Er gilt von nun an als enger Vertrauter Targas. Seine schwangere Frau verlässt ihn, weil sie mit einem Faschisten nicht zusammenleben will. Die Widerstandsgruppen des Maquis nutzen die verzweifelte Lage des Lehrers aus und fordern ihn zur Kooperation auf. Während alle Welt ihn weiterhin für einen überzeugten Francisten hält, baut der Lehrer bis zu seinem plötzlichen Tod ,seine' Schule zu einem Zentrum des Untergrundwiderstands gegen die Franco-Diktatur aus. Von diesem geheimen Doppelleben erfährt erst im Jahre 2002 die Lehrerin Tina Bros, die bei Recherchen für eine Ausstellung über die Schulgeschichte des Landes nach Torrena kommt und dort in der alten Dorfschule zufällig ein Heft mit Aufzeichnungen des Dorfschullehrers findet. Er schildert darin seiner verlorenen Tochter sein wirkliches Leben und bittet sie, so sie denn diese Aufzeichnungen einmal zu lesen bekommt, um Verzeihung. Die Lehrerin, selbst in schwierigen persönlichen Verhältnissen, will die Sache aufklären und gerät damit, ohne es zu ahnen, in eine gefährliche Situation. Denn da ist noch die greise Elisenda, die ein eigenes Interesse an der Sache hat.

Auf packende Art verbindet der Autor die Geschichte Spaniens über mehr als sechzig Jahre mit den persönlichen Geschichten seiner Protagonisten. In souveräner Manier handhabt er dabei eine spannungssteigernde Technik des ,schnellen Schnitts', mit der er immer wieder unvermittelt Zeiten und Personen wechselt. So entsteht eine mitreißende Dynamik, die die Lektüre der über 600 Seiten zu einem fesselnden Ereignis macht. Diese Technik ist aber mehr als ,nur' eine schriftstellerische Methode der Spannungssteigerung. Sie bestätigt sehr eindringlich eine gewisse Unentrinnbarkeit: der plötzliche Wechsel in eine andere Zeitebene setzt die soeben geschilderte Handlung in einen unmittelbaren Bezug zu früheren Handlungen und Ereignissen, ohne dass die Protagonisten sich dessen bewusst sind. Dem Leser aber erschließt sich, dass jede Handlung im Jahre 2002 in einer konsequenten und unentrinnbaren Beziehung zu früheren Handlungen und Ereignissen steht. Das bedeutet zunächst: Was geschehen ist, kann nicht ungeschehen gemacht werden!

Doch die Verwicklungen und Folgen des Krieges sind nicht nur auf der Ebene des Geschehenen bedeutsam. Denn im Verlauf der Jahrzehnte wurden die Ereignisse sowie die beteiligten Personen politisch instrumentalisiert. Der einstmalige Mord wurde zu einer nationalen Tat, der Mörder wurde zum Helden, der Widerstandskämpfer zur Legende. Die Untaten des Krieges sind unsichtbar geworden hinter einem Schleier aus Mythen und Legenden. Zugleich aber begründen diese Mythen selbst wieder neue Legitimationen, politische Haltungen und individuelle Handlungsmotive. Beispielhaft steht für diesen Wirklichkeitsverlust der Dorflehrer Oriol Fontelles: seine wahre Existenz bleibt über seinen Tod hinaus unsichtbar in jener tragischen Konstellation, in der die einen ihn als Faschisten verehren, während die anderen ihn hassen. Doch die Verehrung der einen ebenso wie der Hass der anderen beruht auf einer Lüge.

Jaume Cabrè zeigt in seinem Roman auch, wie schwer es ist, diese Lügen aufzudecken, wenn sie zur Grundlage von individuellen Lebensgeschichten und von gesellschaftlichen Organisationen in der spanischen Gesellschaft geworden sind. Das ist ein lehrreicher Mehrwert eines packenden und spannenden Romans, der von Kirsten Brandt angemessen übersetzt wurde.


Titelbild

Jaume Cabré: Die Stimmen des Flusses. Roman.
Übersetzt aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
668 Seiten, 22,80 EUR.
ISBN-13: 9783458173632

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