Manchmal kann nicht einmal der Golem helfen

Mirjam Pressler erzählt eine alte Legende neu

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schwere Schritte waren zu hören. "Der Rabbi erstarrte, hielt das Brot vor sich in der Luft, lauschte mit leicht zur Seite geneigtem Kopf und wartete, bis die Haustür mit einem heftigen Schlag zugefallen war, erst dann entspannte er sich. 'Wer war das?' fragte Jankel erstaunt. 'Ach, das war nur Josef', sagt Jente schnell."

Es ist nicht ganz geheuer im Haus des alten Rabbis in Prag. Josef arbeitet als Synagogendiener, ein hünenhafter Kerl ohne jegliche Mimik, und reden kann er auch nicht. Jankel fürchtet sich vor ihm, wie alle anderen im Judenviertel, die Josef kaum ansehen, ihm aus dem Weg gehen. Ein wenig unheimlich ist er schon. Aber wenn sie in Gefahr sind, dann verteidigt er sie, kämpft gegen die Judenhasser und scheint keinen Schmerz zu spüren. Er ist der Golem.

Mirjam Pressler, die vielfach ausgezeichnete Übersetzerin und Jugendbuchautorin, erzählt in ihrem neuen Buch die Geschichte des 15-jährigen Jankel und seiner kleinen Schwester Rochele. Als ihr Vater nicht zurückkommt, als ihre Tante Scheijndl so krank wird, dass sie nicht mehr für die beiden sorgen kann, gehen sie nach Prag, zu ihrem Onkel, dem Wunderrabbi Judah Löw. Freundlich nimmt der sie auf und besorgt Jankel eine Stelle beim Bäcker.

Aber es ist gefährlich in Prag um 1600. Als Schutz gegen die Feinde hat Rabbi Löw den Golem geschaffen, eine Kreatur aus Lehm, einen Bewacher, einen Kämpfer. Denn immer wieder behaupten Mönche, die Juden würden kleine Christenkinder schlachten, immer wieder lässt sich die Menge aufhetzen, mordet, plündert und zerstört. Selbst der Kaiser, selbst die Richter sind nicht frei von törichten Vorurteilen. Und manchmal kann nicht einmal der Golem helfen.

Pressler erzählt diese alte jüdische Legende neu, sie erzählt von der langsam wachsenden Freundschaft zwischen dem kleinen Jankel und der riesigen Kreatur, sie erzählt vom tödlichen Antisemitismus und dem immer unsicheren Leben der Juden. Lebendig und sehr anschaulich beschreibt sie auch das Alltagsleben, die kleinen und großen Freuden, die religiösen Feste und Bräuche und die vielen skurrilen Charaktere. Es ist eine kraftvolle Geschichte voller atmender Details, eine tragisch endende Liebesgeschichte, eine anrührende Freundschaftsgeschichte und ein tiefer Blick in ein heute lange verschwundenes Gesellschaftsleben. Es ist ein Märchen. Ein Fantasyroman, der vor allem über die menschliche Verantwortung nachdenkt, über die Kräfte, die man beschwört und nicht immer beherrscht, über den Glauben und über das Fremde, das einem manchmal ganz nah kommen kann, als sei es ein Teil von einem selbst.


Titelbild

Mirjam Pressler: Golem stiller Bruder. Roman.
Beltz Verlagsgruppe, Weinheim 2007.
373 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783407810212

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