Lest Marx!

Ein Sammelband aus dem Umfeld der MEGA 2-Edition zeugt vom vielversprechenden Neubeginn systematischer „Kapital-Lektüren“

Von Jan MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich gibt es die neue, systematische „Kapital-Lesebewegung“ schon. So sieht es zumindest aus, blickt man auf den Herausgeber- und Autorenkreis des vorliegenden Bandes. Seit langem macht sich etwa Frieder Otto Wolf mit der unablässigen Erinnerung an die vom marxistischen Mainstream abgetanen philosophischen und politischen Überlegungen Louis Althussers verdient; mit Ingo Elbe vom Arbeitskreis „Rote Ruhr-Universität“ und Martin Birkner als Redakteur der österreichischen Zeitschrift „Grundrisse“ tragen zwei Repräsentanten aktueller, undogmatischer linker Theoriebildung zur Debatte bei. Umso verdienstvoller ist es, dass sie mit dieser Sammelpublikation nun gemeinsam auftreten.

Explizit stellen die Herausgeber ihre Lektüren in den Zusammenhang des Projekts „radikale Philosophie“. „Radikal“ wird Philosophieren – das versuchte der gleichnamige Band von F.O. Wolf aus dem Jahr 2002 und der im Folgejahr erschiene Sammelband zur „Tätigkeit der Philosophen“ zu zeigen – weder durch „radikalistische“ Rhetorik noch durch die Verinnerlichung moralistischer Weltanschauungen. Radikal ist sie dort, wo sie bei aller logischen Angemessenheit ihr praktisches Wirken mitreflektiert: wo sie denkt, was sie denkend tut – freilich nicht beschaulich, sondern als ‚Kritik im Handgemenge‘. „Philosophie“, so spitzte Althusser polemisch verkürzend zu, „ist Klassenkampf in der Theorie“. Damit das nicht so voluntaristisch gerät, wie es klingen mag, bedarf das Philosophieren der Versicherung nicht nur der Geltung, sondern auch der Genese seiner Argumente – bedarf radikale Philosophie, will sie nicht zum „Weltanschauungsmarxismus“ verkommen, mithin der Versicherung, was sich hinter dem Label „Marx“ alles verbirgt.

Die Herausgeber wissen das und haben den Band so als sympathischen Zwitter gestaltet. Auf der einen Seite stehen Beiträge, die das Projekt mit Blick auf landesspezifische Diskurse verorten (Bernard Guibert über die „symptomale Lektüre“ Althusser’scher Provenienz in Frankreich, Leo Šešerko mit einer auf Osteuropa fokussierten Revitalisierung des Monopolbegriffs, schließlich Richard D. Wolff über „überdeterministische“ Kapitallektüren in den USA). Auf der anderen Seite stehen Beiträge, die an exemplarischen Problemen des Marx’schen Textes und ihrer Ausdeutung arbeiten. Da geht es immer noch um die Gretchenfrage, exemplarisch am Streit zwischen W.F. Haug und M. Heinrich, ob eine „logisch-genetische“, also letztlich geschichtsphilosophisch aufgeladene Interpretation, oder die „logische“ Kapitallektüre dem ‚Kapital‘-Projekt angemessen sei. Im Dickicht der „Lesarten der marxschen Theorie“ (konzise und geschickt typologisierend: Ingo Elbe) bezwecken die Beiträger einhellig und zu Recht, Momente der „logischen“, also systematisch rekonstruierenden Deutung zu erarbeiten, und begeben sich dabei in die hochspezialisierte Debatte um die Frage nach der „Logik“ des Kapitals (Helmut Reichelt): Lässt sich die Marx’sche Werttheorie (mit Michael Heinrich und Hans-Georg Backhaus) anders denn als monetäre verstehen (Ingo Stützle mit der Frage nach der konstitutiven Relevanz der Geldware und Ralf Krämer mit leider sozialwissenschaftlich nivellierten „Thesen zur Werttheorie“)? Inwiefern enthalten schon die ersten beiden Kapitel der Zweitauflage des „Kapitals“ eine „in sich differenzierte Einheit von Form-, Handlungs- und kritischer Bewußtseinstheorie“ (Christian Iber über die „Bedeutung der Differenz in der Entwicklung der Wertformen“ der Erst- und Zweitauflage)?

Solcherlei konzentrierte Nachfragen sind dem Anspruch einer „polyphonen Kapital-Lektüre“ ebenso angemessen wie die Einbeziehung der aktuellsten philologischen Forschungen zur Gestalt des Marx’schen Textkorpus – wenngleich gelegentlich der Eindruck entsteht, philologische „Wissenschaftlichkeit“ solle zur Lösung der Geltungsfrage des Diskutierten beitragen. Solche legitimatorischen Rhetoriken sind freilich vor dem Hintergrund rezeptionsgeschichtlicher Schlittenfahrten, hitziger Streitfälle um die Aneignung der Marx’schen Theorie und die Possen einer zumeist allenfalls partiellen Althusser-Rezeption in Deutschland zu verstehen. Das führt aber dazu, dass der richtige Anspruch, „Marx‘ eigene, eigentümlich radikale Philosophie nicht mehr aus Marx‘ spärlichen Selbstkommentierungen zusammenzusetzen, sondern sie aus dem zu rekonstruieren, was er ‚wirklich in der Philosophie tat‘“, nur gelegentlich erfüllt wird.

Ist es im systematischen Philosophieren mit Hegel etwa mittlerweile Gang und gäbe, den „toten Hund“ mit sprachphilosophisch reflektierten Mitteln auf aktuelle begriffliche Problemen hin zu befragen, so ist eine solche beherzte Aneignung Marxens auch im vorliegenden Band noch die Ausnahme (hervorzuheben die „Vorarbeiten zu einer relationslogischen Rekonstruktion der marxschen ‚Wertformanalyse‘“ von Dennis Kirchhoff und Alex Reutlinger – nach Peter Ruben einer der seltenen Versuche, Marx mit methodisch-konstruktiven Mitteln zu konfrontieren). Da steht auch die „neue Kapitallesebewegung“ noch im Bannkreis alter Theoriegeschichten.

Wenn Frieder Otto Wolf zu Recht fordert, das Kapital-Projekt solle abseits der „dialektischen Darstellungsweise“ ökonomischer Formen als „allgemeine Theorie“ (als Philosophie also) rekonstruiert werden solle, und mahnt, man möge sich dabei „nicht im philosophischen Apriorismus à la Hegels ‚Geistphilosophie‘ verirren“, dann kann wenigstens gefragt werden, ob solche (freilich altehrwürdigen) Exklusionen nicht das begriffliche Potential rezenter Neuaneignungen (etwa eines vernünftig auf Marx hingelesenen Hegel) verschenken. Das ist kein Defizit dieses Sammelbandes, der im Gegenteil durch die vorzügliche Kommentierung der Herausgeber glänzt. Ihnen geht es um konstruktive Diskussion; durchweg werden die Beiträge auf- und gegeneinander bezogen und terminologische Abweichungen nicht kaschiert, sondern betont (exemplarisch etwa die umsichtige Kommentierung des dichten Beitrags von Jacques Bidet, der in konzentrierter Form eine Summe seiner bislang in drei Bänden unübersetzt publizierten „metastrukturalen“ Rekonstruktion vorstellt: Sie dürfte der deutschen Leserin erst eine angemessene Lektüre möglich machen).

Natürlich geht es bei alldem „nicht in erster Linie um eine Sache akademischer Wissenschaft, sondern vor allem um ein ganz elementares Politikum – um die einfache Frage, wie wir die grundlegenden Herrschaftsstrukturen der kapitalistischen Produktionsweise in ihrer Veränderbarkeit denken können“. Wie wir sie nicht denken sollten, zeigt Alexander Gallas‘ erfrischend polemischer Beitrag über die Apologien der wertkritischen These von der Selbstabschaffung des Kapitalismus. Das ist nicht neu, aber aus politischer Sicht ebenso allemal eine Erinnerung wert, wie der Hinweis, dass die Geschlechterfrage moralisch, also ohne die Betrachtung politischer Ökonomie, schlicht unzureichend gestellt ist (Käthe Knittler/Martin Birkner: „Frau am Herd & Arbeitswert“).

Genau dazu braucht es aber aller vernünftigen Mittel der philosophischen Praxis. Das zeigen die vorliegenden Beiträge in der Kritik populärer Mißverständnisse; und das zeigen sie dort, wo sie in ihrer Reflexion (mal pragmatisch, mal aus Ressentiment) stehenbleiben. Es ist zu hoffen, daß sie als Anstoß in beide Richtungen aufgenommen werden: Sie könnten fruchtbare Bewegung ins Handgemenge der Kritik bringen.

Titelbild

Jan Hoff / Alexis Petrioli / Ingo Stuetzle / Frieder Otto Wolf (Hg.): Das Kapital neu lesen. Beiträge zur radikalen Philosophie.
Westfälisches Dampfboot Verlag, Münster 2006.
370 Seiten, 27,90 EUR.
ISBN-10: 389691605X
ISBN-13: 9783896916051

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