Nationalgeschichtsschreibung einer spanischen Region?

Anlässlich des Gastauftritts Kataloniens auf der Frankfurter Buchmesse widmen sich zwei Bücher der "Geschichte Kataloniens"

Von Patrick EserRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Eser

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geschichte erzählt von der Vergangenheit. Was in diese Erzählung Eingang findet, unterliegt der Auswahl des Erzählenden - genauso wie die Darstellung und Erklärung von Zusammenhängen. Je abstrakter die Sache ist, deren Geschichte erzählt werden soll, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die fiktionale Dimension in der Geschichtsschreibung Überhand nimmt. Das gilt besonders für die Geschichtsschreibung der Nationen. Als "vorgestellte Gemeinschaften" sind sie sogar auf solche derlei Existenz stiftende und Sinn verleihende Erzählungen angewiesen. Es ist die Identität prägende Funktion der Erinnerung, die die Geschichtsschreibung zu einem höchst politischen Gegenstand macht. Das zeigen auch die geschichtspolitischen Diskussionen immer wieder. Die Nationalgeschichtsschreibung ist offen hin zur Mythologie, indem nämlich durch das Schreiben einer gemeinsamen Geschichte eine Erzählung erfolgt, die Zusammengehörigkeitsgefühle produzieren soll: Solche Geschichtsschreibung ist weniger die kritische Rekonstruktion der Abfolge der Ereignisse in der Zeit als vielmehr ein mythischer Bericht, der einen Zusammenhang von Ursprung und Gegenwart konstruiert.

Auch am Beispiel Katalonien, dem diesjährigen "Ehrengastland" der Frankfurter Buchmesse, ließ sich in den letzten Monaten beobachten, als wie Sinn stiftend die Funktion von Erinnerung und Geschichte verstanden wird. Schon allein die Bezeichnung des Vorhabens, die Geschichte Kataloniens zu schreiben, ist Anlass für eine politische Auseinandersetzung: handelt es sich um die Geschichte einer Region Spaniens oder die Geschichte einer eigenständigen Nation? Auf den Veranstaltungen, die sich im Umfeld der Frankfurter Buchmesse mit dem Gastland beschäftigt haben, wurde die Option bevorzugt, von Katalonien als einer Nation zu sprechen - womit auch oftmals mythologische Begleiterzählungen einhergingen. Ein Herkunftsmythos, den der ehemalige Regierungschef Kataloniens Jordi Pujol populär gemacht hat, sieht den Ursprung Kataloniens in der Zugehörigkeit zum karolingischen Reich: "Unsere Hauptstadt lag nicht in Spanien, sondern unsere Hauptstadt war Aachen". Ein weiterer berühmter Topos in der katalanischen Erinnerungskultur ist das glorifizierte Erinnern an das "goldene Zeitalter". Diese Bezeichnung steht für die Epoche, in der die katalanisch-aragonesische Krone im westlichen Mittelmeerraum im 12. und 13. Jahrhundert eine dominante Stellung einnahm: "Das katalanische Reich", so ist zu hören, "erstreckte sich über den ganzen Mittelmeerraum bis hin zu Konstantinopel".

Rechtzeitig zur Buchmesse sind auf dem deutschen Buchmarkt zwei "kleine Geschichten Kataloniens" erschienen, eine von dem Historiker Carlos Collado Seidel und eine weitere von Walther Bernecker, Thorsten Eßer und Peter Kraus.

Collado Seidel thematisiert schon auf den ersten Seiten seiner "kleinen Geschichte Kataloniens" die grundlegende und mit Sprengkraft geladene Fragestellung, ob man überhaupt von einer "katalanischen Nationalgeschichte" und einer "katalanischen Nation" sprechen kann. Im Gegensatz zum Band von Bernecker, Eßer und Kraus sind die Ausführungen von Collado-Seidel eingebettet in vorangestellte kritische Überlegungen über das eigene Unternehmen, eine Geschichte Kataloniens zu schreiben. Eine vergleichbare systematische Selbstreflexion des Projekts lässt der Band von Bernecker et alii vermissen.

Collado-Seidel veranschaulicht die Probleme, die die Nationalgeschichtsschreibung aufwerfen kann, wenn er auf einen jüngeren politischen Streit in Spanien verweist. Die spanische Akademie für Geschichte kam im Zuge einer Überprüfung der Inhalte der Geschichtsbücher der "historischen Regionen" (also Katalonien, Galizien und dem Baskenland) zum dem Ergebnis, dass die regionale Geschichtsvermittlung tendenziös sei. Der spanische Staat werde als ideologisch bedingte Fiktion dargestellt, der keinerlei "wirklichen" Bezug zur nationalen Realität auf der iberischen Halbinsel habe.

Der Band von Bernecker et al. besteht aus drei einzeln verfassten Kapiteln über die Geschichte Kataloniens bis zum Ende des Franquismus (Bernecker), über die Entwicklung im demokratischen Spanien (Kraus) und über die katalanische Kulturgeschichte (Eßer). Bernecker gibt auf knapp 150 Seiten eine sehr gute Zusammenfassung der wichtigsten sozialgeschichtlichen Fakten und politischen Entwicklungen in Katalonien seit der Etablierung der karolingischen Herrschaft im östlichen Nordspanien und bis zum Ende des Franquismus.

Dieser Abriss über 13 Jahrhunderte skizziert die wichtigsten Etappen der dynastischen "Verfassungsgeschichte", die Höhen und Tiefen des aragonesisch-katalanischen Reiches und geht schließlich auf die Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert genauer ein. Die Entwicklung des Absolutismus in Spanien - und dessen Versuch, eine einheitliche Verwaltungsstruktur in Spanien zu errichten - stellt Bernecker ebenso dar, liegt hier doch eine der historischen Wurzeln der heutigen Auseinandersetzung Kataloniens mit dem politischen Zentrum in Madrid begründet.

Berneckers Ausführungen haben ihre Stärke in der gründlichen Vorstellung der politischen Akteure und ihrer Ziele. Die politische Landschaft Kataloniens im 19. Jahrhundert wird durch eine Analyse der Entstehung der Arbeiterbewegung und ihrer unterschiedlich ausgerichteten Organisationen verständlich gemacht. Im Kontrast zu diesen sozial motivierten Bewegungsformen wird auch die Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung und des politischen Katalanismus nachgezeichnet, wobei die Heterogenität und der Wandel im katalanischen Nationalismus hervorgehoben wird.

Peter A. Kraus widmet sich in seinem Beitrag der Frage nach der politischen Identität Kataloniens in der Gegenwart. Es gelingt ihm, die Komplexität dieser spannenden Frage herauszuarbeiten und die Problemstellungen zu benennen. Die wichtigsten Organisationen der einzelnen nationalistisch-regionalistischen Strömungen werden aufgezeigt und die Anerkennungskämpfe um die "katalanische Identität" an mehreren Beispielen veranschaulicht. Kraus kennzeichnet den katalanischen Nationalismus als einen zivilen, der sich abgrenze von einem ethnisch geprägten Nationalismus, der auskomme ohne ethnische Feindbildkonstruktionen und sich lediglich gegen die ausgreifenden Strukturen des autoritären Zentralismus des spanischen Staats wende.

Der dritte Beitrag des Bandes mit dem martialischen Untertitel "1000 Jahre Kampf um die katalanische Kultur und Sprache" befasst sich mit der "Kulturgeschichte Kataloniens".

Dem Autor Thorsten Eßer zufolge ist es möglich, seit dem Ende des 10. Jahrhunderts von einer "katalanischen Nation" und einer spezifisch "katalanischen Kultur" zu reden - eine These, die sehr gewagt erscheint und noch dazu kaum belegt wird. Der informative Überblick über die Errungenschaften in Kunst, Literatur und auch über technische Erfindungen wird im Rahmen einer nationalistischen Mythologie gegeben: alle kulturellen Leistungen des Landes werden eingereiht in eine glorifizierte Linie der einheitlich vorgestellten "katalanischen Kultur" - die keine Differenzierungen zu kennen scheint. Entsprechend vereinfachende Annahmen über die "spezifische Katalanizität" finden sich auch in der stereotypen Beschreibung des "Katalanen an sich" wieder: Die Katalanen unterschieden sich, so Eßer, von anderen Bevölkerungsgruppen Spanien nicht nur durch die Sprache, sondern auch durch ihre spezifische Mentalität: Der Katalane sei fleißig, geschäftstüchtig, aber auch ernst und geizig. Eine weitere Charaktereigenschaft sei die Dialogbereitschaft, Bündnismentalität und nicht zuletzt der Gemeinschaftsgeist, der sich in den volkstümlichen Aktivitäten ausdrücke. Daher auch die Nähe der "katalanischen Denkart" zu den Werten des Humanismus: als Handelsnation habe die katalanische Nation immer schon die Prinzipien der Toleranz, Menschenwürde, Gewalt- und Gewissensfreiheit verinnerlicht.

Eßers Darstellung der Kulturgeschichte leidet unter solchen Vereinfachungen. Sein "fundierter und lebendiger Überblick über die Errungenschaften in Kunst und Kultur" (Klappentext) hat eine verdächtige Nähe zu einem mythischen Bericht kulturnationalistischer Prägung.

Was die inhaltliche Konsistenz der geschichtlichen Darstellung betrifft, stehen die Ausführungen von Collado-Seidel denen des Konkurrenzprodukts in nichts nach. Auch bei ihm finden sich sozialgeschichtlich präzise Erklärungen, die bis in die Gegenwart reichen, lediglich was das Feld der politischen Bewegungen, sei es diejenigen der organisierten Arbeiterbewegung oder die des politischen Katalanismus, betrifft, sind die Beiträge von Bernecker und Kraus etwas instruktiver.

In beiden Bänden finden sich neben historischen Darstellungen auch Kommentare zur aktuellen politischen Situation. Aufsehen erregte der Streit vor der Buchmesse um die Frage, wer denn die "katalanische Kultur" in Frankfurt repräsentieren könne. Mussten das notwendig Autoren sein, die auf katalanisch schreiben, oder konnten das auch katalanische Autoren sein, die auf spanisch schreiben, wie etwa die Bestseller-Autoren Eduardo Mendoza ("Die Stadt der Wunder") oder Carlos Ruiz Zafón ("Der Schatten des Windes")? Seitens der Veranstalter des katalanischen Kulturinstituts lag die Priorität auf ersterer Option. Man beabsichtigte, Katalonien mit dem angrenzenden katalanischen Sprachraum als eine ein Jahrtausend alte Kultur mit einer eigenen Sprache vorzustellen. Sowohl Eßer als auch Collado-Seidel kommentieren diesen Streit, in dem der Vorwurf der "Anti-Katalanität" gegen auf spanische schreibende Autoren erhoben wurde. Eßer kritisiert die so genannten ,Hardliner', die Sprache und Kultur gleichzusetzen versuchen, wenn sie die katalanische Kultur auf in Katalanisch produzierte Literatur reduzieren. Die katalanische Kultur bliebe, so Eßer, ohne ihre spanischsprachige Komponente unvollständig, schließlich habe Zafóns Buch "Der Schatten des Windes" weltweit Werbung für Barcelona und Katalonien machen können.

Auch Collado-Seidel geht darauf ein. In seinen Bemerkungen über die katalanische Kulturpolitik, die er als verbissenen Versuch der Katalanisierung, also der Durchsetzung der katalanischen Sprache als Amts- und Verkehrssprache, darstellt, formuliert er eine dezidierte Kritik am übereifrigen Sprachpurismus. Er sieht in der katalanischen Kulturpolitik eine "starke Tendenz, sich abzukapseln und lediglich die eigene Sprache und kulturellen Traditionen zuzulassen. Es hat den Eindruck, als gebe es ein ungeschriebenes Gesetz, wonach sich katalanische Kultur auf Katalanisch auszudrücken habe".

Alles in allem bieten beide Bände einen facettenreichen Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart der Region und/oder Nation Katalonien. Die Grundzüge der historischen Entwicklung werden umfassend aufgezeigt und die gegenwärtige politische Situation durch diese historische Rückschau verständlich gemacht. Besticht der Suhrkamp-Band durch den präzisen Blick auf die unterschiedlichen politischen Akteure und deren Programmatik in Geschichte und Gegenwart, so liegt der Vorteil der Monografie von Collado-Seidel in ihrer Kompaktheit. Sensibilisiert für die Probleme, die eine Nationalgeschichtsschreibung aufwerfen kann, liefert der Autor eine sehr gute "kleine Geschichte Kataloniens" - auch wenn seine politischen Einschätzungen an manchen Stellen etwas seltsam anmuten. So erklärt der Autor das Bündnis der spanischen Kirche mit den Franquisten ausgehend von der revolutionären Gewalt im Bürgerkrieg: angesichts der entfesselten revolutionären Gewalt, die sich im Bürgerkrieg ab 1936 gegen Repräsentanten der klerikalen Herrschaft entladen habe, hätten diese gar nicht anders gekonnt, als sich auf die Seite der Faschisten zu stellen. So verwundere es nicht, "dass sich die spanische Kirche nahezu geschlossen hinter die Aufständigen [also den Putschisten gegen die Zweite Republik] stellte und zu einer der wichtigsten ideologischen Stützen des entstehenden Regimes von General Franco wurde". Das Bündnis von Kirche und Franquismus wird somit dargestellt als Reaktion auf die Gewalt im Spanischen Bürgerkrieg - ganz so als ob sich die katholische Kirche nicht schon im vornherein mit den aufständigen Truppen Francos einig gewesen wäre über die zu vollziehende anti-republikanische Agenda.

Die Frage, ob es sich bei der Geschichte Kataloniens um die Geschichte einer spanischen Region oder um die einer schon tausend Jahre alten Nation handelt, beanspruchen beide Bände - von den oben genannten Einschränkungen abgesehen - glücklicherweise nicht zu beantworten. Dies ist letztlich eine aktuelle politische Frage, die in Katalonien und Spanien immer wieder aufgeworfen und letztlich dort - nicht zuletzt auch in geschichtspolitischen Debatten - ausgefochten wird. Dem deutschsprachigen Publikum liegen nun jedenfalls zwei Bücher vor, die das Verstehen dieser aktuellen Auseinandersetzungen und ihrer geschichtliche Entstehung leichter machen.


Titelbild

Walther L. Bernecker / Thorsten Eßer / Peter A. Kraus: Eine kleine Geschichte Kataloniens.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
347 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783518458792

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Titelbild

Carlos Collado Seidel: Kleine Geschichte Kataloniens.
Verlag C.H.Beck, München 2007.
239 Seiten, 12,95 EUR.
ISBN-13: 9783406547874

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