Janis Joplin im Reihenhaus

Frank Jöricke hat einen Familienroman geschrieben, bei dem nicht nur der Titel ungewöhnlich ist

Von Hans Peter RoentgenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans Peter Roentgen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Mein Opa hatte das Pech, zur falschen Zeit jung zu sein. 25 Jahre später hätte er eine feine Rock'n'Roller-Jugend verlebt, mit frisierten Haaren und Mofas und wöchentlichen Wirtshauskeilereien, die in Stuhl- und Schädelbrüchen mündeten. 35 Jahre später wäre er dem Establishment entschlossen entgegengetreten, indem er mit keiner Frau zwei Mal gepennt hätte. Vielleicht hätte er auch ein wenig dummes politisches Zeug gebrabbelt, als Eintrittskarte in die Welt der neuen Bewegung.

Bewegungen brauchen so etwas: dumme Sprüche, die so fett daherkommen, dass sich ein jeder bequem dahinter verstecken kann. Es ist nämlich viel einfacher, in einer Menschentraube "Nieder mit dem Schweinesystem!" zu brüllen, als seiner Zimmerwirtin von Angesicht zu Angesicht darzulegen, warum es O.K. ist, nach 22 Uhr Damenbesuch zu empfangen. Nur kommt man mit solchen Debatten nicht in die Schlagzeilen."

Der Opa dieses Ich-Erzählers war in Stalingrad. Und ist gerade noch rausgekommen. Wie die meisten seiner Generation redete er vom "Studentenpack". Das war 1967 und das ist auch das Jahr, in dem Jörickes Buch beginnt. Pro Jahr ein Kapitel, das immer mit Weltbewegendem beginnt. "Am Tag, als Janis Joplin starb", so beginnt etwa das Jahr 1970. Um dann fortzufahren: "unterschrieb mein Vater den Kaufvertrag für unser Reihenhaus".

Jöricke verquickt den ganz banalen Alltag im Hunsrück mit der Weltpolitik. Bora Cosic hat das in "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" ebenfalls getan, aber ansonsten kaum jemand.

Dabei sind Familienromane doch so beliebt und füllen die Short- wie die Longlist des deutschen Buchpreises. Bei manchen hat man auf Seite 3 bereits das Gefühl, auch die folgenden 497 Seiten zu kennen. Das ist bei Jöricke nicht der Fall. Ganz im Gegenteil, man sollte ihn nicht in der S-Bahn lesen, unmotivierte Heiterkeitsausbrüche verstören die Mitreisenden - und vermutlich vergisst man, auszusteigen.

Das Leben von Normalos wird vorgestellt, jenen also, die mitlaufen und dabei ihren eigenen Wahnsinn produzieren. Der Onkel, der die sexuelle Revolution mit Pfälzer Chefsekretärinnen feiert und dank Viagra sein letztes Abenteuer besteht; der Vetter, der mit "high sein, frei sein" startet und im Samtanzug endet; die Pharmakologie-Cousine, die mit Hormonen Mutter werden will, deren Freund aber versehentlich eine andere schwängert; der Vater, dem vor lauter Beton verbauen die Frau abhanden kommt und manchem anderen, der ebenfalls im kleinen seine Weltkatastrophe erlebt. Wie alle großen Komödien sind auch diese manchmal zum Heulen.

All das wird nicht nur witzig erzählt, sondern lässt auch das Lebensgefühl der verschiedenen Jahre wieder aufleben. Mit wenigen Strichen verbindet er die großen Ereignisse mit der kleinen Welt seiner Familie. Ein Familien- und ein historischer Roman der ungewöhnlichen Art. Ein Buch, das vielleicht nicht in die Literaturgeschichte eingehen wird, aber den Leser grandios unterhält und obendrein einen treffenden, ganz eigenen Blick auf die deutsche Vergangenheit wirft.


Titelbild

Frank Jöricke: Mein liebestoller Onkel, mein kleinkrimineller Vetter und der Rest der Bagage. Roman.
Solibro Verlag, Münster 2007.
248 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783932927331

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