Bis zum letzten Moment verborgen

Guy Helmingers Roman "Morgen war schon"

Von Martin SpießRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Spieß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit mancher Art Literatur ist es wie mit barocken Gemälden. Sie ist auf den ersten Blick so verstörend, dass erst ein zweiter oder dritter Blick Klarheit schafft. Und nach einer Weile, die man das Bild betrachtet, erschließt sich einem plötzlich eine Sichtweise, die es in seiner Ganzheit verständlich macht wie ein offenes Buch.

Guy Helminger erzählt in seinem im Suhrkamp Verlag erschienenen Roman "Morgen war schon" die Geschichte dreier Generationen von miteinander bekannten oder verwandten Menschen. Und wie in einem Barockgemälde ist der Einstieg in den Roman enigmatisch und befremdlich. Der Taxifahrer Feltzer, eine der Hauptfiguren, hat beim Pferderennen viel Geld verloren und verweigert vier Fahrgästen die Fahrt, weil auf dem Rücksitz seine Plüschgiraffen stehen. Vor Wut zerschmettert er schließlich sein Handy auf dem Asphalt. Je mehr Figuren aber in die Handlung eingeführt werden - Feltzers Frau Louise, deren Freundin Claudia - desto klarer wird das Bild der verschlungenen, sich immer wieder kreuzenden Pfade zwischen den Familien von Feltzer, Louise und Claudia. Helminger schiebt immer wieder Geschichten der Eltern von einem der drei in die gegenwärtige Handlung ein, lässt diese sogar als Ich-Erzähler die Geschichte ihres Lebens und vor allem ihrer Liebe reüssieren. Oft spielen dabei der Zweite Weltkrieg und dessen Nachwirkungen eine Rolle.

Helminger erzählt so wunderschön von der Liebe, dass man beinahe glaubt, einen anderen Autor vor sich zu haben als den, der noch zwei Jahren im selben Verlag das Buch "Etwas fehlt immer" veröffentlichte, eine Sammlung irritierend skurriler Kurzgeschichten, deren Sprache durch eine zwar ungewöhnliche, aber unglaublich haptische Metaphorik bestach.

Dieselbe Metaphorik findet sich auch in "Morgen war schon". Und ähnlich wie in "Etwas fehlt immer" konstruiert Helminger einen sehr individuellen Ton, der sich aber schnell abnutzt. Der Autor jedoch vermag mit der Handlung seines Romans gegenzusteuern, vor allem, weil in allem die Frage mitschwingt, wie der Titel des Romans zu verstehen sei. Haben die Figuren das Beste in ihrem Leben schon hinter sich und leben nur noch in der Vergangenheit? Oder können sie nicht auf die Zukunft warten, haben aber immer das Gefühl, nie das zu erreichen, was sie gehofft haben? Helminger lässt diese Fragen offen, lässt die sich zum Teil einander entfremdeten Protagonisten Feltzer und Louise wieder nahe kommen - streut aber gleichzeitig Momente des Zweifels und Unruhe in ihre Gedanken und damit in die des Lesers ein.

Je deutlicher sich die Entwicklung der Figuren zeigt, desto deutlicher wird auch die Bedeutung des Titels, bis Helminger erst kurz vor dem Ende des Romans die Auflösung verrät. Denn wenn seine Figuren und die eigentliche Handlung auch schnell dechiffriert werden können, das gesamte Bild in seiner Bedeutung bleibt - Helminger sei Dank - wunderbarerweise bis zum letzten Moment verborgen.


Titelbild

Guy Helminger: Morgen war schon. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
331 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783518419182

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