Tatsachenphantasien oder: Immer Arzt und Dichter zugleich

Über einige Neuerscheinungen zum Werk Alfred Döblins

Von Christine KanzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Kanz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Neben Pflanzen, Tieren und Steinen" liebe er "nur zwei Kategorien Menschen: nämlich Kinder und Irre", sagte Döblin einmal. Damit teilte er nicht nur etwas von seinem grundsätzlichen Mißtrauen gegenüber seiner Umwelt mit, sondern verriet auch seine Hingezogenheit zu allem Irrationalen, Naturhaften und Animalischen, zu den von der modernen Zivilisation (noch) nicht zurechtgestutzten bzw. zu den aus ihr wieder entlassenen Naturen.

Zu einer solchen Natur wird zum Beispiel "Herr Michael Fischer". In Döblins kurioser Novelle "Die Ermordung einer Butterblume" kommt er zunächst als die Inkarnation eines spießbürgerlichen Knotenmannes des wilhelminischen Zeitalters daher, verschwindet aber am Ende, nach einer Reihe unmotivierter Affektausbrüche, im dunklen Bergwald. Beginn und Höhepunkt seiner vitalistischen Eskapaden ist die Vergewaltigung einer Butterblume namens Ellen. Die Vernichtung des "Herrn" als selbstbeherrschtes, autonomes Subjekt läßt sich freilich nicht als Bestrafung im Sinne poetischer Gerechtigkeit werten. Denn der irre gewordene Held in seinen Gefühlswallungen und Schuldkomplexen wird ganz und gar nicht als Unhold geschildert. Vielmehr ist vor dem Hintergrund der Aussage Döblins über seine Lieblingsgeschöpfe anzunehmen, daß seine Sympathie auch hier der Verkörperung des Vitalen gilt. Fischer weint zum ersten Mal seit seiner Kindheit. Doch enthält Döblins Plädoyer für die Freisetzung von Emotionen zugleich auch eine Warnung vor zu großer Übertreibung. Übermäßige Irrationalität, so führt der Text anhand von Fischer vor, endet in geistiger Umnachtung und Selbstzerstörung. Die Novelle läßt sich gleichsam als Mahnmal lesen. Das moderne, zivilisierte Subjekt wird an die Fragilität seiner selbst erinnert. Oder, wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom in einem anderen Zusammenhang formulierte, an etwas, das es längst vergessen zu haben geglaubt hatte: "daß es an Ursprünge gebunden ist, und nicht an Ziele; daß seine Autonomie (bestenfalls) eine rettende Fiktion ist."

Der kleine, vergnüglich zu lesende, 1910 erstmals publizierte Text enthält eine poetologische Grundkonstante, die das Gesamtwerk Döblins durchzieht: das immerwährende Schweben zwischen zwei Polen. Das Dunkle, die abweichenden, verqueren Schattenseiten menschlicher Existenz literarisiert zu haben, ist ein Verdienst des Verfassers von "Berlin Alexanderplatz", diese mit fast naturwissenschaftlicher Präzision wieder in das Licht der Vernunft gerückt zu haben, das andere.

Manche führen die Unentschiedenheit zwischen gegensätzlichen Lebensentwürfen, zwischen Arzt oder Dichter, die die Vita Döblins regiert, auf den nie verwundenen, frühen Verlust des Vaters zurück, der eines Tages mit seiner Geliebten durchbrannte und Ehefrau samt Kindern ohne Existenzsicherung zurückließ. Möglicherweise übersehen sie, daß beide Berufungen sich erst gegenseitig ermöglichten und daß es gerade der glücklichen Verbindung von kreativen Ausflügen ins Verquere und wissenschaftlichem Rationalisierungsvermögen zu danken ist, dass die Texte Döblins noch heute aktuell sind. Einer der letzten Belege dafür ist die Publikation der Vorträge des von der Internationalen Döblin-Gesellschaft 1997 in Leipzig veranstalteten Symposiums, das dieser Aktualität gewidmet war. Eben die sein gesamtes Werk durchziehenden Dichotomien sind es, die bis heute innovative Interpretationsversuche provozieren. Immer wieder ist die Verknüpfung vermeintlicher Gegensätze, wie (europäische) Zivilisation und (fremde) Kultur(en) (Helmut F. Pfanner u. Teresa Delgado), Politik und Literatur (Erich Kleinschmidt), Symbolik und Imagination (Dietmar Voss), Erzählen und Wissen (Eva Horn), 'perverse' und 'normale' Sexualität (Roland Dollinger), Subjektautonomie und Zertrümmerung der Identität (Klaus Schuhmann), das Faszinosum, das die Literaturwissenschaft zu immer neuen Thesen veranlaßt. Döblins Beziehung zu anderen Autoren, das Phänomen der Intertextualität (Anne Kuhlmann), die Verfilmung seiner literarischen Texte (Matthias Prangel) oder die Döblin-Rezeption in der DDR (Sabine Kyora) dagegen sind Vortragsthemen, die da schon fast aus dem Rahmen fallen.

Auch Döblins Verhältnis zur Psychoanalyse ist von Ambivalenz, oder vielleicht besser: von Differenziertheit, geprägt. Auf Freud verweist der Arzt und Dichter Alfred Döblin erstmals 1909 in einem wissenschaftlichen Aufsatz über Hysterie. Schon 1914 soll er selbst in seiner Praxis Psychoanalyse betrieben und sich einige Jahre später sogar einer Lehranalyse unterzogen haben. 1926 hielt er zu Freuds 70. Geburtstag den Festvortrag in der Deutschen psychoanalytischen Gesellschaft in Berlin. Vier Jahre später engagierte er sich entschieden und mit Erfolg für die Verleihung des Goethe-Preises an Freud. Welche Bedeutung die Psychoanalyse für den Autor noch nach 1945 hatte, zeigt sein später "Hamlet"-Roman. Döblin nannte ihn 1953 "eine Art psychoanalytischen Roman". Und doch ist es vor allem seine kritische oder gar polemische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse, die in einer Vielzahl publizistischer Arbeiten dokumentiert ist.

Die Bedeutung der Psychologie, insbesondere der Psychoanalyse, für das literarische Werk Döblins, die mit seinem obsessiven Interesse an den Naturmächten im Menschen einhergeht, mit denen er sich auch in seinen naturphilosophischen Schriften auseinandersetzte, steht im Zentrum der 1997 erschienenen Dissertation von Ingrid Maaß. Ihre leitende These geht von einer Affinität zwischen den anthropologischen Grundannahmen Döblins und Freuds metapsychologischen Betrachtungen aus, die sich auch an seinen literarischen Werken nachweisen läßt. Die herausgearbeiteten Gemeinsamkeiten zwischen Döblin und Freud in ihrem medizinischen und naturphilosophischen Denken bilden daher die Grundlage für ihre Interpretation der "Amazonas"-Trilogie und des "Hamlet"-Romans - jener beiden Werke also, in denen Döblins naturphilosophische Ideen einerseits und seine psychologischen Thesen andererseits besonders prägnant zum Ausdruck kommen. Themenkomplexe, wie Triebverfallenheit und Schuld, die den Autor im medizinischen wie naturphilosophischen Zusammenhang faszinierten, werden hier literarisiert. Vor allem eines wird durch die Ergebnisse dieser Studie wiederholt akzentuiert: Die verwandten Denkmuster Döblins und Freuds zeigen sich auch darin, daß Döblin die in seinen Werken thematisierte Dichotomie von Naturverfallenheit und Autonomie, Triebabhängigkeit und Rationalität, Regression und Individuation "im Sinne einer kritisch gegen sich selbst gewendeten Aufklärung aufzulösen sucht und keineswegs irrationale Positionen vertritt."

Für die Integration von psychologischem, politischem, gesellschaftlichem, medizinischem und ethnologischem Wissen in den literarischen Text hat Ira Lorf in Alfred Döblin ein ergiebiges Beispiel gefunden. Sie nennt ihre Dissertation eine "Fallstudie für die Adaption von Wissenssoziologie in der Literaturwissenschaft". Die Kostümfestszene in Alfred Döblins bis heute unterschätztem Roman "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine" nimmt sie zum Anlaß, den verschiedensten Bedeutungszusammenhängen von "Masken" nachzugehen, nicht nur in der Literatur, in der bildenden Kunst oder im Film, sondern auch in der Mode, im Theater, im Karneval und insbesondere in der Ethnologie. Die Begriffe "Maskierung" und "Demaskierung" stehen wiederum in engem Zusammenhang mit den Begriffsdichotomien, die das Werk Döblins durchziehen und die damals auch sonst im Bereich der Ästhetik, der Literaturkritik, der Philosophie und anderer kultureller Diskurse debattiert wurden: Verstellung und Wahrheit, Schein und Sein, Fälschung und Authentizität, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit.

Indem sie die verschiedenen Fassungen der ,,Kostümfestszene" gegeneinander hält, weist Ira Lorf mit philologisch profunden Einzelergebnissen nach, wie Döblin solche oppositionellen Konstruktionen spielerisch miteinander verknüpft und wie diese sich gegenseitig aufheben. Anknüpfungen an jüngere Theorie-Diskussionen wie zum Beispiel an die über New Historicism oder (Geschlechter-)Maskerade geht sie aus dem Weg.

Gerade die Dichotomie von Männlichkeit und Weiblichkeit ist es jedoch, die bei einem Autor, der sogar die Begegnung eines Mannes mit einer Butterblume sexualisiert und der fast jedes Zusammentreffen von Mann und Frau in seinen Texten zu einem Geschlechterkampf ausarten läßt, ins Auge fällt. Die Analysekategorie 'Geschlecht' endlich einmal im Zusammenhang mit dem poetologischen Selbstverständnis Döblins, das Verhältnis von Autorschaft und Sexualität zu reflektieren, stellte daher seit langem ein Desiderat der Döblin-Forschung dar. Mit Annette Kecks Studie ist es nun gewinnbringend eingelöst worden. Der Titel "Avantgarde der Lust" ist dabei im doppelten Sinne zu lesen: einerseits sind damit die spezifisch modernen Autorschaftsvorstellungen Anfang des 20. Jahrhunderts gemeint, die sich über ein verändertes Verhältnis zum 'anderen Geschlecht' definieren. Andererseits soll er, übersetzt als 'Vorhut einer Streitmacht für die Lust', eine "andere sexuelle Relation" offenlegen: Die Lust selbst ist Objekt des Begehrens.

Wie das moderne Lustsubjekt zu denken ist, inwiefern das Lustbegehren in ganz bestimmte männliche und weibliche Körperbilder umgesetzt wird, sind Fragen dieser Studie. Von Tänzerinnen, Kindsbräuten und Prostituierten, von Ärzten, Lustmördern und Blasierten ist die Rede in den drei großen Kapiteln, deren Einteilung durch drei Texte Döblins bestimmt wird: "Modern", "Die Tänzerin und der Leib" und die "Memoiren eines Blasierten". Sabine Keck zeigt, wie sich unter Berücksichtigung neuerer, vor allem feministischer Theorieentwicklung die Lektüre der frühen Prosa Döblins methodisch neu gestalten läßt. Die verschiedenen Relationen zwischen Sprache, Weiblichkeit und Körper stehen dabei genauso im Mittelpunkt wie das männliche Lust- und Autorsubjekt selbst. Die Frage nach dem Zusammenhang von Geschlechterverhältnis und Ästhetik überprüft die Verfasserin nicht nur an literarischen Motiven, sondern begreift sie auch als Strukturprinzip der Poetik Döblins.

Eines ihrer Ergebnisse betrifft denn auch die Poetologie des angeblich ewig Ambivalenten im Kern: Döblin ging es "weder nur um ein Zerschlagen ästhetischer Konventionen, noch um ein nur rauschhaftes Aneinanderreihen von Bildern." "Tatsachenphantasien" sollten seine literarische Texte sein. Döblin war eben Schriftsteller und Arzt.

Ingrid Maaß: Regression und Individuation. Alfred Döblins Naturphilosophie und späte Romane vor dem Hintergrund einer Affinität zu Freuds Metapsychologie.

Titelbild

Ingrid Maaß: Regression und Individuation. Alfred Döblins Naturphilosophie….
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1997.
208 Seiten, 33,20 EUR.
ISBN-10: 3631308760
ISBN-13: 9783631308769

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Titelbild

Annette Keck: Avantgarde der Lust. Döblin.
Wilhelm Fink Verlag, München 1998.
256 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3770532392

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Titelbild

Ira Lorf / Gabriele Sander: Internationales Alfred-Döblin-Kolloquium. Leipzig 1997.
Peter Lang Verlag, Frankfurt 1999.
230 Seiten, 60,80 EUR.
ISBN-10: 3906759261

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Ira Lorf: Maskenspiele. Wissen und kulturelle Muster in Alfred Döblins Romanen.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2000.
278 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3895282618

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