Warum ich meine demente Mutter belüge

Eine schwierige Mutter-Sohn-Beziehung, aufgezeichnet von Cyrille Offermans

Von Stefanie HartmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Hartmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ireneo Funes heißt der Held einer Geschichte von Jorge Luis Borges, dessen Gedächtnis so unerbittlich jede noch so nebensächliche Erfahrung speichert, dass zu deren Analyse kein Raum bleibt. An diese Geschichte erinnert sich Cyrille Offermans, als er seine demente Mutter im Pflegeheim besucht und deren zunehmende Unfähigkeit zu erkennen und verstehen als entgegengesetztes Extrem der Krankheitssymptome der literarischen Figur erkennt.

Gleichzeitig bedrückt es ihn, dass sein eigenes, "gesundes" Erinnerungsvermögen die letzten Eindrücke - zum Beispiel ihr Anblick im Heim, mit fremder Brille, ohne Gebiss, mit Joghurt bekleckert und verwirrt - über ältere legt und so sein Bild von ihr bestimmt.

In den Niederlanden ist der 1945 geborene Offermans bekannt für seine Essays, Theaterstücke, Jugendbücher und Künstlermonografien. Er arbeitete über Paul Klee und machte in seinem Land die deutschen Philosophen Theodor W. Adorno und Walter Benjamin einem größeren Publikum bekannt. Das vorliegende Buch über die schleichende Erkrankung seiner Mutter ist Offermans persönlichstes Buch und das Einzige, das in deutscher Sprache vorliegt - was sicher daran liegt, dass Themen wie Altern und Pflege zur Zeit stark diskutiert werden.

Ganz subjektiv, ohne je rührselig zu werden, beschreibt er, wie die Krankheit beginnt und zunächst gar nicht als solche erkannt wird. Seine Mutter wird zunehmend rücksichtslos gegenüber anderen Familienmitgliedern (zum Teil - so erklärt es sich der Autor nachträglich - um ihre Mitmenschen von sich fernzuhalten und ihnen so ihren verwirrten Zustand zu verheimlichen). Es entspinnt sich ein "direkter und peinlicher Zusammenhang [...] zwischen ihren Tarnversuchen und unserer Fürsorge". Die Symptome, die er beschreibt - übertriebene Betriebsamkeit, sich verstärkende Religiosität, zunehmende Kritik an anderen Frauen, starker Alkoholkonsum, die Vorstellung, es herrsche Krieg - mögen typisch für den konkreten Fall sein; dennoch werden Leser, die Demenzkranke erlebt haben, ihre Situation in den beschriebenen Konflikten wiedererkennen. Trost vermag das Buch dennoch nicht zu spenden, denn Cyrille Offermans vermag mit seiner Familie zwar zu helfen, schließlich muss die Mutter jedoch in ein Pflegeheim, in dem sie allerdings alles andere als glücklich ist. So bleibt ein Gefühl der Hilflosigkeit.

Denn was kann es anderes als Hilflosigkeit bedeuten, wenn Offermans die einzige Pflegerin beschreibt, die es schafft, einen Zugang zur Mutter zu finden: "[Sie] kam aus Polen und war - wohl nicht untypisch - die Tochter eines herkömmlichen kleinen Bauern. Sie erzählte, als Kind habe sie gelernt, dass alle Hühner, Schweine und Kühe ihre eigenes, unverwechselbares Geräusch machten, wenn sie Schmerzen oder Hunger hatten, unruhig oder wütend waren und auch, wenn sie geweckt und rausgelassen wurden. Das komme ihr nun zugute, sagte sie, denn die Bewohner dieses Heims seien meistens nicht mehr in der Lage, ihre Gefühle in Worte zu fassen oder höchstens in gebrochener Form, aber wenn man gut aufpasse, dann könne man in ihren Gesichtern lesen oder aus ihren tierartigen Lauten etwas verstehen."

Der Autor bedauert, dass diese Pflegerin bereits nach zwei Wochen wieder aus dem Pflegeheim verschwindet - und aus seiner Sicht mag es verständlich sein, weil sie sich als Einzige Zeit für seine Mutter nahm. Doch ein unangenehmes Gefühl beschleicht den Leser, wenn er sich versucht vorzustellen, einem Demenzkranken ginge es dann am besten, wenn man ihn in seinem Kommunikationsbedürfnis auf animalische Laute reduziert.

Wer - fragt man sich - möchte auf diese Weise alt werden?


Titelbild

Cyrille Offermans: Warum ich meine demente Mutter belüge.
Übersetzt aus dem Niederländischen von Walter Kumpmann.
Verlag Antje Kunstmann, München 2007.
124 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783888974854

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